An der Straße nach Genua stand ein leerer Gasthof mit verdunkelten Fenstern und offenen Türen, vom Wirt, seiner Frau, den Kindern und sämtlichen Gästen wegen eines Teiltoten Riesen verlassen, der kürzlich oben eingezogen war. Der Riese war teilweise tot, weil er tagsüber vollständig tot war, nachts aber zu furchterregendem Leben erwachte. «Wer in dem Haus eine Nacht verbringt, wird bestimmt aufgefressen», warnten die Nachbarn den jungen Argalia, als er des Weges kam, doch Argalia kannte keine Angst, ging ins Haus und gönnte sich ganz allein ein herzhaftes Mahl. Kaum war der Riese in jener Nacht zum Leben erwacht, sah er Argalia und rief: «Aha, was für ein Leckerchen! Ausgezeichnet!» Argalia aber erwiderte: «Wenn du mich frisst, erfährst du nie mein Geheimnis.» Der Riese war ebenso neugierig wie dumm, was bei Riesen ja oft der Fall ist, also sagte er: «Verrat mir dein Geheimnis, kleines Leckerchen, und ich verspreche dir, dich erst zu fressen, wenn ich es weiß.» Argalia machte eine tiefe Verbeugung und begann: «Mein Geheimnis steckt in dem Kamin dort», sagte er, «und wer es zuerst entdeckt, wird der reichste Junge auf der ganzen Welt sein.» - «Oder der reichste Riese», rief der teiltote Riese. «Oder der reichste Riese», gab ihm Argalia recht, klang aber nicht sonderlich überzeugt. «Du bist viel zu breit, du passt nicht in den Kamin.» «Ist es ein großer Schatz?», fragte der Riese. «Der größte auf Erden», erwiderte Argalia. «Deshalb hat ihn der kluge Prinz, der ihn einst zusammengerafft hat, im Kamin eines einfachen Gasthofs versteckt, da niemand vermuten würde, dass sich ein so mächtiger Monarch ein so dämliches Versteck aussuchen könnte.» - «Prinzen sind blöd», sagte der teiltote Riese. «Ganz im Gegensatz zu Riesen», setzte Argalia nachdenklich hinzu. «Genau», erwiderte der Riese und versuchte, sich in den Kamin zu zwängen. «Zu breit», seufzte Argalia. «Wie ich schon befürchtet habe. Jammerschade.» Der Riese rief: «Bei den Göttern, noch gebe ich nicht auf», und riss sich einen Arm ab. «Jetzt bin ich doch schon ein bisschen schmaler, nicht wahr?», sagte er, passte aber immer noch nicht in den Schornstein. «Vielleicht solltest du auch vom anderen Arm ein Stück abbeißen?», riet ihm Argalia, und gleich schlug der Riese seine mächtigen Zähne in den verbliebenen Arm, als wäre es ein Lammkotelett. Doch das gewaltige Ungeheuer war immer noch nicht schmal genug. «Ich habe eine Idee», sagte Argalia. «Wie wäre es, wenn du deinen Kopf schon mal vorschickst, um nachzusehen, was es oben im Kamin zu sehen gibt?» - «Ich hab bloß keine Arme mehr, mein Leckerchen», sagte der Riese bekümmert, «die Idee ist ausgezeichnet, aber ich kann meinen Kopf schließlich nicht einfach abschütteln.» - «Lass mich helfen», rief Argalia eifrig, griff nach dem Küchenbeil, sprang auf den Tisch und hieb dem Koloss mit einem einzigen wuchtigen Schlag - ruckedizuck - den Kopf ab. Als der Wirt, seine Frau, seine Familie und alle Gäste (die in einem nahen Graben die Nacht verbracht hatten, erfuhren, dass Argalia den teiltoten Riesen erschlagen hatte, sodass der jetzt bei Tage wie bei Nacht vollständig kopflos war, fragten sie Argalia, ob er ihnen nicht noch einmal helfen und auch den habgierigen Herzog im nahen U. köpfen könne, der ihnen das Leben zur Hölle machte. «Das geht mich nichts an», antwortete Argalia. «Löst eure Probleme selbst. Ich wollte nur ein Bett für die Nacht. Jetzt mache ich mich wieder auf den Weg zu Admiral Andrea Doria, um an seiner Seite mein Glück zu suchen.» Und mit diesen Worten ließ er die Leute einfach stehen und zog davon, seinem Schicksal entgegen … Die Geschichte war natürlich vollständig erlogen, aber erlogene Geschichten können in der wahren Welt manchmal sehr hilfreich sein, und es waren Geschichten dieser Art - improvisierte Versionen aus dem schier endlosen Strom an Geschichten, die ihm sein Freund Ago Vespucci erzählt hatte -, die den Kopf des kleinen Nino Argalia retteten, als man den Jungen auf dem Vordeck des Flaggschiffes von Andrea Dorias Flotte unter einer Koje fand. Ninos Informationen waren überholt gewesen
- die Goldbande hatte die Franzosen bereits vor einer ganzen Weile vertrieben -, weshalb ihm klar wurde, dass der Zeitpunkt für extreme Maßnahmen gekommen war, als man ihm sagte, Doria wolle in See stechen, um gegen die Türken zu kämpfen. Die acht Trieren voll grimmiger, bis an die Zähne mit Arkebusen, Entermessern, Pistolen, Garotten, Dolchen, Peitschen und übelsten Schimpfworten bewaffneter Söldner waren schon fünf Tage auf See, als man den blinden Passagier, diesen halbverhungerten Wurm, am Ohr vor den großen condottiere höchstpersönlich zerrte. Argalia sah wie eine schmuddelige Lumpenpuppe aus, hatte Lumpen am Leib und presste ein Lumpenbündel an die Brust. Andrea Doria war gewiss kein Mann von gutem Charakter. Er kannte nicht die geringsten Skrupel, war eitel, ein Tyrann und zu Taten äußerster Brutalität fähig. Seine blutrünstige Armee von Glücksrittern hätte längst gegen ihn aufbegehrt, wäre er nicht auch so ein großartiger Befehlshaber, ein souveräner Meister der Strategie und absolut furchtlos gewesen. Kurz, der Mann war ein wahres Ungeheuer, und wenn ihm etwas missfiel, sah er mindestens so gefährlich wie ein Riese aus, ob nun teilweise tot oder nicht.
«Du hast zwei Minuten», sagte er zu dem Jungen, «um mir ei-nen Grund zu nennen, warum ich dich nicht auf der Stelle über Bord werfen lassen sollte.»
Argalia sah ihm offen ins Gesicht. «Das wäre höchst unklug von Euch», log er, «denn ich verfüge über einen Schatz äußerst seltener und vielseitiger Erfahrungen. Weit und breit habe ich mein Glück gesucht und auf meinen Reisen einen Riesen geköpft - ruckedizuck -, den seelenlosen Zauberer erschlagen, nachdem ich ihm zuvor die Geheimnisse seiner Kunst entlocken konnte, und ich beherrsche die Schlangensprache. Ich habe den König der Fische getroffen und im Haus einer Frau mit siebzig Söhnen, aber nur einem einzigen Wasserkessel gelebt. Ich kann mich nach Belieben in einen Löwen verwandeln, in einen Adler, einen Hund oder eine Ameise, weshalb ich Euch mit der Kraft eines Löwen dienen, mit dem Auge eines Adlers für Euch spionieren, Euch treu wie ein Hund und mich klein und unscheinbar wie eine Ameise machen könnte, sodass Ihr nie den Attentäter seht, der in Euer Ohr krabbelt, um Euch zu vergiften. Kurz und gut, mit mir ist nicht zu spaßen. Ich mag klein sein, aber ich bin es allemal wert, von Euch aufgenommen zu werden, denn ich lebe mein Leben nach demselben Grundprinzip wie Ihr.»
«Und was wäre das für ein Grundprinzip, wenn ich fragen darf?», wollte Andrea Doria leicht amüsiert wissen. Er hatte einen seltsam abstehenden Bart, einen sardonisch verzogenen Mund und glitzernde Augen, denen nicht das Geringste entging.
«Dass der Zweck die Mittel heiligt»», erwiderte Argalia, ein Satz, den Il Machia gern in jenen ethischen Debatten zum Besten gegeben hatte, in denen es darum gegangen war, ob man die Alraune einsetzen dürfe, um andernfalls unerreichbare Frauen zu verführen.
«Der Zweck heiligt die Mittel»», wiederholte Doria überrascht. «Nun, das ist verdammt gut ausgedrückt.»» «Der Satz stammt von min», sagte Argalia, «denn wie Ihr bin ich eine Waise, hatte wie Ihr in meiner Jugend keinen Heller und musste wie Ihr notgedrungen unser Handwerk erlernen. Waisen wissen außerdem: Wenn sie überleben wollen, müssen sie tun, was immer nötig ist. Da gibt es keine Grenzen.»» Was hatte Il Machia nochmal gesagt, als der Erzbischof gehängt wurde? «Nur der Stärkere überlebt.»»

«Nur der Stärkere überlebt», sinnierte Andrea Doria. «Noch so eine höllisch gefährliche Idee. Bist du da ebenfalls von allein drauf gekommen?» In bescheidenem Stolz senkte Argalia den Kopf. «Da auch Ihr eine Waise seid», hob er erneut an, «wisst Ihr, dass ich zwar wie ein Kind aussehen mag, deshalb aber noch lange kein hilfloser Säugling bin. Ein ‚Kind‘ ist behütet und umsorgt, wird vor der wahren Welt geschützt und darf Jahre in bloßem Spiel verbringen - es ist zudem ein Wesen, das glaubt, Weisheit lasse sich in der Schule erwerben. ‚Kindheit‘ aber ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann, ebenso wenig wie Ihr es konntet, denn die Wahrheit über die ‚Kindheit‘ liegt in den verlogensten Geschichten dieser Welt verborgen. Kinder nehmen es mit Ungeheuern und Dämonen auf und überleben nur, wenn sie keine Furcht kennen. Kinder verhungern, wenn sie den Zauberfisch nicht befreien, der ihnen drei Wünsche gewährt. Kinder werden bei lebendigem Leib von Trollen gefressen, falls es ihnen nicht gelingt, diese Unholde bis zum Sonnenaufgang aufzuhalten, da sie sich dann wieder in Steine verwandeln. Ein Kind muss lernen, wie man Bohnen wirft, um daraus die Zukunft abzulesen, wie man auch Bohnen wirft, um sich Männer und Frauen gefügig zu machen, und wie man die Bohnenstängel wachsen lässt, an denen sich die Zauberbohnen finden. Waisen sind gleichsam zur Potenz erhobene Kinder, die ein ebenso märchenhaftes wie extremes Leben führen.» «Gebt diesem großmäuligen Philosophen zu essen», befahl Admiral Doria seinem Bootsmann, einem furchterregenden Ochsen von Matrosen namens Ceva. «Vielleicht ist er uns noch von Nutzen, ehe die Reise zu Ende geht, und bis dahin werden mich seine koboldhaften Lügengeschichten gewiss unterhalten.»
Der Bootsmann hielt Argalia immer noch fest am Ohr gepackt, als er ihn aus der Kajüte des Kapitäns führte. «Glaub bloß nicht, dein blödes Gequatsche hätte dich gerettet», sagte er. «Du bist nur aus einem einzigen Grund noch am Leben.»

«Aua», rief Argalia, «und was wäre das für ein Grund?»

Ceva zog noch fester an seinem. Ohr. Auf die rechte Wange hatte er sich einen Skorpion tätowieren lassen, und er besaß die toten Augen eines Mannes, der niemals lachte. «Der Grund ist der, dass du irgendwie den Mumm oder die Unverschämtheit aufgebracht hast, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, denn wenn ein Kerl ihm nicht in die Augen sieht, reißt er ihm die Leber raus und verfüttert sie an die Möwen.»

«Über kurz oder lang», erwiderte Argalia, «werde ich der Kommandant sein und solche Urteile fällen. Und du? Du solltest besser mir in die Augen sehen, sonst kannst du was erleben.»

Ohne die geringste Spur von Zuneigung verpasste Ceva ihm eine Kopfnuss. «Du wirst warten müssen, bis es so weit ist, Zwerg», sagte er, «denn wenn du deinen Schädel nicht in den Nacken legst, kannst du mir nicht in die Augen, sondern höchstens auf meinen Schwanz sehen.»

Im Gegensatz zu dem, was ihm Ceva der Skorpion sagte, mussten Argalias verrückte Geschichten doch etwas mit seinem Überleben zu tun gehabt haben, denn nur allzu bald stellte sich heraus, dass der monströse Admiral Andrea wie jeder tumbe Riese eine Schwäche für derartige Erzählungen besaß. Wenn sich abends das Meer schwarz färbte und die Sterne Löcher ins Firmament brannten, pflegte sich der Admiral unter Deck eine Opiumpfeife anzuzünden und nach dem randvoll mit Geschichten gefüllten Jungen zu rufen. «Da Eure Genueser Schiffe alle Trieren sind», begann Argalia, «solltet Ihr auf dem ersten Deck Käse mit Euch führen, Brotkrumen auf dem zweiten und fauliges Fleisch auf dem dritten. Kommt Ihr dann zur Insel der Ratten, gebt ihnen den Käse, die Brotkrumen werden die Bewohner der Ameisenin-sel erfreuen, und das faulige Fleisch, nun, das lieben die Vögel der Geierinsel. Danach habt Ihr mächtige Verbündete. Die Ratten nagen sich für Euch durch jedes Hindernis, sogar durch Berge, und die Ameisen leisten Euch all die Dienste, die für menschliche Hände zu delikat und fein sind. Wenn Ihr die Geier aber nett bittet, fliegen sie Euch sogar auf den Gipfel des Berges, auf dem der Quell ewiger Jugend entspringt.»
Andrea Doria grunzte. «Aber wo finde ich diese verdammten Inseln?», wollte er wissen.
«Admiral», erwiderte der Junge, «Ihr gebt den Kurs an, nicht ich. Sie werden schon irgendwo auf Euren Karten eingetragen sein.» Trotz dieser frechen Antwort lebte er noch am nächsten Tag, um eine weitere Geschichte zu erzählen - Es waren einmal drei Apfelsinen, und in jeder steckte ein wunderschönes Mädchen, das sterben musste, wenn es nicht auf der Stelle Wasser bekam, sobald es die Apfelsine verließ -, und der in Rauchwolken gehüllte Admiral murmelte ihm im Austausch Vertraulichkeiten zu.
Das Meer war voller Mord und Totschlag. In diesen Gewässern marodierten, plünderten und kidnappten die Berberpiraten, und seit dem Fall von Konstantinopel war hier gleichfalls die osmanische Marine aktiv, die Galeerenflotte der Osmanli-Türken. Diesen maritimen Ungläubigen hielt Admiral Andrea Doria nun sein pockennarbiges Gesicht entgegen. «Ich vertreibe sie vom Mare Nostrum und mache Genua zur Herrin der Wellen», prahlte er, und Argalia wagte keinen Widerspruch und kein skeptisches Wort. Andrea Doria beugte sich zu dem still gewordenen Jungen vor, die Augen milchig vor lauter afim. «Was du weißt und was ich weiß, das weiß auch der Feind», flüsterte er ihm traumverloren in seinem Opiumrausch zu. «Sogar der Feind folgt dem Gesetz eines Waisenkindes.»
«Wen meint Ihr?», fragte Argalia. «Mahomet», erwiderte An-drea Doria. «Mahomet, ihren Waisengott.» Argalia hatte nicht gewusst, dass er seinen Waisenstatus mit dem Propheten des Islam teilte. «Der Zweck heiligt die Mittel», fuhr Andrea Doria mit träger, schwerer Stimme fort. «Verstehst du? Sie leben nach derselben Regel wie wir. Das eine und einzige Gebot. Wir tun, was nötig ist. Ihre Religion ist also dieselbe wie unsere.» Argalia holte tief Luft und stellte gefährliche Fragen. «Wenn das stimmt», sagte er, «sind sie dann wirklich unsere Feinde? Steht der wahre Gegner nicht immer im Gegensatz zu uns? Kann das Gesicht, das wir im Spiegel sehen, unser Feind sein?»
Admiral Doria versank schon fast in Bewusstlosigkeit. «Ganz recht», murmelte er noch, ehe er in den Sessel zurückfiel und zu schnarchen begann. «Außerdem gibt es da einen Feind, den ich noch stärker hasse als dieses mohammedanische Piratengesindel.»
«Und der wäre?», fragte Argalia.
«Venedig», sagte Doria. «Diese venezianischen Gecken mache ich auch noch fertig.»
Während die acht Genueser Trieren in Kampfformation über das Meer fuhren und ihre Beute jagten, begriff Argalia, dass die Religion bei alldem keine Rolle spielte. Die Korsaren der Berberstaaten dachten gar nicht daran, irgendwas zu erobern oder ihren Glauben zu verbreiten. Sie interessierten sich ausschließlich für Lösegeld, für Gewalt und Erpressung. Und was die Osmanen betraf, so wussten sie, wenn die neue Hauptstadt Stambul überleben wollte, mussten Lebensmittel von andernorts in den Hafen gelangen und die Schifffahrtsrinnen offen bleiben. Zudem wurden sie allmählich raffgierig und schickten Schiffe aus, um Hafenstädte, aber auch Städte abseits der Ufer des Ägäischen Meeres anzugreifen; und für Venezianer hatten sie erst recht nichts übrig. Macht, Reichtum, Besitz, Reichtum und Macht. Argalia kamen nachts jetzt ebenfalls Träume, in denen es vor exotischen Juwelen nur so wimmelte. Allein in seiner Koje auf dem Vorderdeck, schwor er sich: «Niemals werde ich als armer Mensch nach Florenz zurückkehren, nur als ein mit Reichtümern beladener Prinz.» Sein Vorhaben war wirklich sehr einfach. Die Natur der Welt hatte sich offenbart.

Wenn die Dinge am einfachsten scheinen, erweisen sie sich unweigerlich auch als höchst tückisch. Nach einer siegreichen Begegnung mit den Piratenschiffen der Barbarossa-Brüder von Mytilene troff der Admiral auf höchst befriedigende Weise vor Sarazenenblut und verfolgte selben Tags noch die Hinrichtung der gefangenen Piraten - sie wurden geteert und bei lebendigem Leib auf dem Marktplatz ihrer Heimatstadt verbrannt -, als ihm der tollkühne Einfall kam, in die Ägäis vorzudringen und die Osmanen in ihren heimischen Gewässern anzugreifen. Doch kaum befuhr die Goldbande das sagenumwogte Meer, um sich den osmanischen Galeeren zu stellen, da stieg ein seltsamer Nebel auf, beinahe so, als wäre olympischer Unfug am Werk oder als hätten die alten Götter dieser Gegend, frustriert von der langen Tristesse eines Zeitalters, in dem es ihnen an unmittelbarem Einfluss auf die Gefühle und Treuepflichten der Menschen mangelte, beschlossen, mit ihnen zu spielen und allein um der alten Zeiten willen ihre Pläne zu durchkreuzen. Die acht Genueser Trieren bemühten sich, die Kampfformation zu halten, doch zu verwirrend war der mit dem Geheul von Ghulen, dem Gekreisch von Hexen, dem Gejammer Ertrunkener und dem Gestank der Pestilenz durchsetzte Nebel, weshalb selbst die abgebrühtesten Söldner bald in Panik gerieten. Das System von Nebelhornsignalen, das Admiral Doria sich eigens für einen solchen Tag ersonnen hatte, erwies sich nur allzu bald als völlig wertlos. Jedem Schiff war eine Abfolge kurzer und langer Hornstöße zugeordnet worden, doch angesichts eines derartigen Miasmas des Todes und des Aberglaubens verloren die Kommunikationsversuche der verstörten Söldner rasch an Eindeutigkeit, ganz wie die Nebelhornsignale der Osmanen, sodass schließlich niemand mehr wusste, wer Freund und wer Feind war.
Abrupt begannen die Kanonen der Trieren zu feuern, ebenso die mächtigen Drehbassen an Deck der osmanischen Galeeren, sodass die roten Mündungsflammen und hellen Blitze der mächtigen Geschütze inmitten dieses gestaltlosen Nebelinfernos wie kleine Ausblicke auf das Höllenfeuer wirkten. Überall erblühte Gewehrfeuer, ein flackernder Garten roter, tödlicher Blumen. Niemand wusste, wer auf wen schoss oder wie man sich am besten verhielt; eine große Katastrophe schien unvermeidlich. Doch dann, so plötzlich, als hätten beide Seiten in genau demselben Moment die Gefahr erkannt, wurde es still. Kein Schuss war mehr zu hören, keine rufende Stimme ertönte, kein Nebelhorn. Überall in der weißen Leere begannen leise, verstohlene Bewegungen. Argalia, der allein auf dem Deck des Flaggschiffes stand, spürte, wie ihm das Schicksal die Hand auf die Schulter legte, und merkte überrascht, dass diese Hand vor Angst zitterte. Er wandte sich um. Nein, kein Schicksal stand hinter ihm, sondern Ceva, der Bootsmann, nicht länger grimmig und furchteinflößend, sondern so mutlos wie ein geschlagener Köter. «Der Admiral braucht dich», flüsterte er dem Jungen zu und führte ihn unter Deck, wo Andrea Doria ihn erwartete, in der Hand das große Nebelhorn des Flaggschiffs. «Heute ist dein Tag, mein kleiner Mann und Geschichtenerzähler», verkündete der Admiral leise. «Heute wirst du mit Taten und nicht mit Worten wahre Größe erlangen.»
Der Plan sah vor, dass Argalia in einer kleinen Jolle ins Wasser gelassen wurde, um dann so rasch wie möglich vom Flaggschiff fortzurudern. «Nach jedem hundertsten Ruderschlag», sagte der Admiral, «stößt du in dieses Horn. Der Feind wird meine Raffinesse für Arroganz halten und die Herausforderung von Andrea Dorias cornetto annehmen, wird dich mit seinen Schiffen verfolgen und glauben, große Beute zu machen - soll heißen, mich höchstpersönlich gefangen zu nehmen! -, doch unterdessen bietet sich mir ein Vorteil, und ich werde ihn vernichtend von einer Seite schlagen, aus der er mich nicht erwartet.»
Argalia schien es ein schlechter Plan zu sein. «Und ich?», fragte er mit Blick auf das Horn in seiner Hand. «Wenn die Schiffe der Ungläubigen meinem kleinen Boot nachjagen, was soll ich dann tun?» Ceva der Skorpion packte ihn, hob ihn hoch und warf ihn in die Jolle. «Rudere», zischte er, «kleiner Held, rudere um dein verdammtes Leben.»
«Wenn sich der Nebel lichtet und der Feind besiegt ist», so das ein wenig vage Versprechen des Admirals, «holen wir dich wieder an Bord.» Ceva gab der Jolle einen kräftigen Stoß. «Genau», zischte er, «das machen wir.» Dann waren da nur noch der weiße Nebel und das Meer, Land und Himmel kaum mehr als uralte Fabeln. Das ganze Universum bestand aus nichts als diesem blinden Dahintreiben. Eine Weile tat er, was man ihm aufgetragen hatte, hundert Ruderschläge, dann ein Stoß ins Horn, zweimal, dreimal, doch hörte er nie eine Antwort. Die Welt blieb stumm und lebensgefährlich. Bald würde der Tod in einer lautlosen Woge über ihn hereinbrechen. Die Schiffe der Osmanen würden auf ihn zusteuern und ihn wie einen Käfer zerdrücken. Er hörte auf, ins Horn zu blasen, denn er sah ein, dass den Admiral sein Schicksal nicht interessierte, dass er seinen «kleinen Geschichtenerzähler» so beiläufig geopfert hatte, wie andere Männer über die Reling ins Meer spuckten. Für ihn war er nicht mehr als ein Klecks Rotz, der eine Weile auf den Wellen tanzte, ehe er unterging. Argalia versuchte, sich Geschichten zu erzählen, um sich bei Laune zu halten, doch wollten ihm nur Gruselgeschichten einfallen, ein aus der Tiefe aufsteigender Leviathan, der das Boot mit seinen gigantischen Kiefern zermalmte, sich windende Tiefseewürmer, Drachen, die unter Wasser ihren feurigen Atem ausstießen. Bald versiegten auch diese Geschichten, und er blieb wehrlos und schutzlos zurück, eine einsame menschliche Seele, die auf unbestimmtem Kurs ins Weiß steuerte. Das war, was von einem Menschen blieb, wenn man ihm sein Heim nahm, Familie, Freunde, seine Stadt, sein Land, seine Welt: ein Wesen ohne Zusammenhänge, dessen Vergangenheit verblasst, dessen Zukunft trostlos war, ein seines Namens, seiner Bedeutung, seines Lebenssinns beraubtes Wesen, nichts mehr als nur ein zeitweilig schlagendes Herz. «Ich bin absurd», sagte er sich. «Ein Kakerlak in einem dampfenden Haufen Scheiße ist bedeutsamer als ich.» Als er viele Jahre später Qara Köz traf, die verschwiegene Mogulprinzessin, und sein Leben endlich jene Bedeutung gewann, die das Schicksal für ihn bereitgehalten hatte, entdeckte er in ihren Augen den unermesslichen Zweifel des Verlassenseins und begriff, dass auch sie sich der völligen Absurdität des menschlichen Daseins gestellt hatte. Allein aus diesem Grund hätte er sie geliebt, doch gab es dafür auch noch andere Gründe.

Der Nebel verdichtete sich, drang ihm in Augen, Nase und Hals. Er spürte, wie er nach Luft rang. Vielleicht sterbe ich jetzt, dachte er. Sein Lebenswille war gebrochen. Was ihm das Schicksal auch bringen mochte, er würde sich damit abfinden. So lag er in dem kleinen Boot und dachte an Florenz, sah seine Eltern, ehe die Pest sie entstellt hatte, erinnerte sich an Kindertage, an Ausflüge in den Wald mit seinen Freunden Ago und Il Machia und spürte, wie ihn angesichts dieser Erinnerung die Liebe überkam. Gleich darauf verlor er das Bewusstsein.

Als er aufwachte, hatte der Nebel sich gelichtet, und auch die acht Trieren des Admirals Andrea Doria waren verschwunden. Der große condottiere von Genua hatte den Schwanz eingekniffen und war geflohen, das Nebelhorn in der Jolle war bloß ein einfaches Ablenkungsmanöver gewesen. Hilflos schaukelte Argalia in seinem kleinen Boot direkt vor der versammelten osmanischen Marine wie eine von einem halben Dutzend hungriger Katzen umstellte Maus. Argalia richtete sich auf, winkte seinen Bezwingern zu und blies, so laut er konnte, ins Nebelhorn des Admirals.
«Ich ergebe mich», schrie er. «Kommt doch und holt mich, ihr gottlosen türkischen Schweine.»

13. Im Kinderlager in Usküb …

Tm Kinderlager in Usküb (so der Gedächtnispalast, wurden viele .1. Sprachen gesprochen, doch gab es nur einen Gott. Jedes Jahr streifte die Presspatrouille durch das wachsende Reich, um die devshinne-Steuer zu erheben, den Knabenzins. Die stärksten, klügsten, hübschesten Jungen machte man zu Sklaven und verwandelte sie in Organe des herrschaftlichen Willens. Grundsatz des Sultanats war nämlich die Macht durch Metamorphose. Wir nehmen die Besten aus eurem Nachwuchs, um sie vollständig umzuwandeln. Wir sorgen dafür, dass sie euch vergessen, und fonnen aus ihnen die Macht die euch unter unserer Knute hält. Von euren eigenen verlorenen Kindern werdet ihr regiert werden. In Usküb, wo der Prozess der Umwandlung begann, wurden viele Sprachen gesprochen, doch gab es nur eine Uniform, die Pluderhosenkluft der osmanischen Rekruten. Unserem Helden wurden die Lumpen abgenommen, er wurde gewaschen, bekam zu essen, und man gab ihm klares Wasser. Dann nahm man ihm auch sein Christentum und nötigte ihn, den Islam überzustreifen wie einen neuen Pyjama. Es gab Griechen in Usküb und Albanier, Bosnier und Kroaten und Serben, auch Mamelucken, weiße Sklaven von überall aus dem Kaukasus, Georgier und Mingrelier, Tscherkessen und Abchasen, und es gab auch Armenier und Syrier. Unser Held war der einzige Italiener. Florenz zahlte keinen Knabenzins, doch würde sich das nach Ansicht der Osmanen im Laufe der Zeit gewiss ändern. Die neuen Herren taten, als hätten sie Mühe, seinen Namen auszusprechen; al-ghazi, der Eroberer, wurde er scherzhaft genannt, auch al-khali, die Leere, das Gefäß. Sein Name aber war unwichtig. Argalia, Arcalia, Arqalia, AlKhaliya. Sinnlose Laute, darauf kam es nicht an. Es war seine Seele, die, genau wie die Seelen aller anderen Jungen, eine neue Führung brauchte. Auf dem Paradeplatz ordneten sich mürrisch die neu eingekleideten Kinder in Reih und Glied vor einem Mann in langer Kutte, dessen weißer Hut so hoch war wie sein Bart lang, drei Fuß weit ragte der eine über seinen Brauen auf, der andere fiel gleich tief von seinem Kinn herab, was den Eindruck erweckte, er besäße einen immens langen Kopf. Er war ein heiliger Mann, ein Derwisch vom Orden der Bektaschi, und er sollte sie zum Islam bekehren. Mit ihren vielen verschiedenen Akzenten plapperten die wütenden, verängstigten Jungen den notwendigen arabischen Satz über den einen Gott und seinen Propheten nach. Ihre Metamorphose hatte begonnen.
Selbst während er im Dienste der Republik unterwegs war, konnte Il Machia nicht aufhören, an den Gedächtnispalast zu denken. Im Juli galoppierte er in Richtung Ravenna nach Forli, um Gräfin Caterina Sforza Riario zu überreden, ihren Sohn Ottaviano für weitaus weniger Geld an der Seite der Florentiner kämpfen zu lassen, als sie gefordert hatte, denn sollte sie sich weigern, würde sie den Schutz der Stadt Florenz verlieren und folglich der Gnade des grausamen Herzogs Cesare Borgia der Romagna ausgeliefert sein, des Sohnes von Papst Alexander VI. Die «Madonna von Forli» war so außerordentlich schön, dass selbst Il Machias Freund Biagio Buonaccorsi für eine Weile aufhörte, sich mit Andrea di Romolo zu verlustieren, um Niccolo zu bitten, ihm ein Bild von ihr mitzubringen. Doch Niccolo dachte nur an die namenlose Französin, die wie eine Marmorstatue im Boudoir des Hauses Mars von Alessandra Fiorentina stand. «He, Machia», schrieb Ago Vespucci, «komm schnell zurück, denn ohne Dich organisiert niemand unsere Kneipen- und Kartenabende; außerdem steckt Deine Kanzlei bis oben hin voll mit den blödesten Arschlöchern Italiens, die uns alle ohne Ausnahme feuern wollen - also ist Deine ewige Herumreiterei auch schlecht fürs Geschäft.» Aber Niccolo hatte keinerlei Gedanken übrig für Ränkespiele oder Dolce Vita, gab es für ihn doch nur eine einzige Frau, die er verführen wollte, falls er denn je den Schlüssel fand, der ihm ihr geheimes Innerstes aufschloss, ihre unter dem Gedächtnispalast verborgene Persönlichkeit.
Manchmal sah Il Machia die Welt allzu analog, sah eine Situation analog zu einem gänzlich anderen Geschehen. Als Caterina seinen Vorschlag ablehnte, hielt Il Machia dies daher für ein schlechtes Omen. Vielleicht würde er beim Gedächtnispalast ebenfalls versagen. Als Cesare Borgia dann bald darauf - wie von Niccolo vorhergesagt - die Stadt Forli attackierte und eroberte, stellte sich Caterina hoch oben auf die Stadtmauern, hielt dem Herzog von Romagna ihr Genital hin und rief, er könne sie mal. Sie endete als Gefangene des Papstes im Castel Sant’ Angelo, doch hielt Il Machia, der die Welt manchmal ein wenig zu analog sah, ihr Schicksal für ein gutes Zeichen. Als Gefangene in Papst Alexanders Burg schien ihm Caterina Sforza Riario ein Spiegelbild jener Frau zu sein, die in einem verdunkelten Zimmer in Königin Alessandras Haus Mars verwahrt wurde. Und dass sie sich vor Borgia entblößt hatte, bedeutete möglicherweise, dass der Gedächtnispalast einwilligte, selbiges vor ihm zu tun. Also kehrte er zum Haus Mars zurück, und die Kupplerin Giulietta erklärte sich widerstrebend bereit, ihm uneingeschränkten Zugang zum Gedächtnispalast zu gewähren, da auch sie hoffte, es gelänge ihm, die somnambule Dame aufzuwecken, damit sie sich endlich wie eine normale Kurtisane und nicht länger wie eine redende Statue benahm. Il Machia hatte die Omen korrekt gedeutet. Kaum war er mit ihr allein im Boudoir, nahm er sie bei der Hand und hieß sie sanft, sich auf das Himmelbett zu legen, das passenderweise mit französischen, blassblauen Seidendraperien verhängt war, bestickt mit den goldenen Lilien der Bourbonen. Sie war eine hochgewachsene Frau, es würde einfacher sein, wenn sie lag. Dann legte er sich neben sie, streichelte ihr das Haar, wisperte ihr Fragen ins Ohr und knöpfte unterdessen das Serailmieder auf. Ihre Brüste waren klein. Das war in Ordnung. Sie verschränkte die Finger über der Taille und ließ seine Hände widerstandslos gewähren, während sie Erinnerungen von sich gab, die tief in ihr vergraben gewesen waren. Das schien sie zu erleichtern, und je mehr Ballast sie ablud, desto leichter wurde ihr auch ums Herz. «Erzähl mir alles», flüsterte ihr Il Machia ins Ohr und küsste dabei die frisch aufgedeckte Brust, «dann wirst du frei sein.»
Nachdem man den Knabenzins eingetrieben hatte (erzählte der Gedächtnispalast,, wurden die Jungen nach Stambul gebracht und unter angesehenen türkischen Familien aufgeteilt, damit sie ihnen dienten und die türkische Sprache sowie die Feinheiten des muslimischen Glaubens lernten. Danach folgte die militärische Ausbildung. Später dann traten die Jungen entweder als Pagen unter dem Titel eines Ich-Oghldn dem herrschaftlichen Serail bei, oder sie kamen als Ajem-Oghldn, als einfache Rekruten, zum Korps der Janitscharen. Im Alter von elf Jahren wurde der Held, der mächtige Krieger, Träger der Verwunschenen Lanze und attraktivster Mann der Welt, ein Janitschar, Gott sei gelobt, und darüber hinaus wurde er zum größten Kämpfer der Janitscharen in der Geschichte des Korps. Ach, die gefürchteten Janitscharen des Osmanli-Sultans, möge ihr Ruhm sich über die gesamte Welt verbreiten! Sie waren keine Türken, aber dennoch die Säulen des türkischen Imperiums. Juden wurden nicht zugelassen, deren Glaube war zu stark, um geändert werden zu können, auch keine Zigeuner, die waren Abschaum, selbst bei den Moldawiern und den Walachen Rumäniens führte man keine Knabenlese durch.

Zur Dienstzeit des Helden kämpfte man sogar gegen die Walachen und deren König Vlad Dracula, den Pfähler.

Während ihm der Gedächtnispalast von den Janitscharen er-zählte, richtete sich Il Machias ganzes Augenmerk auf ihre Lippen. Sie erklärte, wie man die Kadetten bei der Ankunft in Stambul nackt inspizierte, doch erfreute ihn nur, wie schön ihr Mund aussah, wenn sie das französische Wort nus aussprach. Sie redete davon, wie man die Knaben zu Metzgern und Gärtnern ausbildete, er aber fuhr nur mit dem Zeigefinger ihre Lippen nach. Sie sagte, man tilgte ihre Vor- und Familiennamen; sie wurden zu Abdullahs, Abdulmomins oder bekamen andere Namen, die mit Abd begannen, denn das bedeutete Sklave und verriet ihren Status in der Welt. Doch statt bekümmert zuzuhören, wie diese jungen Leben verformt wurden, dachte er nur daran, dass ihm missfiel, wie sie die Lippen spitzte, wenn sie die orientalischen Silben aussprach. Er küsste ihre Mundwinkel, als sie ihm vom Obersten Weißen Eunuchen und vom Obersten Schwarzen Eunuchen erzählte, die für die Ausbildung der Knaben verantwortlich waren, und davon, dass der Held, sein Freund, als oberster Falkner angefangen habe, ein beispiellos ho her Rang für einen Kadetten. Er wusste, sein verlorener Freund, der Junge ohne Kindheit, würde im Laufe ihrer Geschichte heranwachsen, er würde mit jedem Satz älter werden, den sie erzählte, und er wusste auch, dass Argalia hatte, was immer Kinder haben, denen die Kindheit fehlt, dass er zu einem Mann wurde oder was immer Kinder ohne Kindheit werden, wenn sie aufwachsen, vielleicht zu einem Mann ohne Mannheit. Ja, Argalia erwarb kriegerische Fähigkeiten, die Furcht und Bewunderung in anderen Männern weckten, und er sammelte einen Kreis junger Krieger um sich, Knabenzinskadetten aus fernen Ländern Europas, aber auch die vier Schweizer Albino-Riesen Otho, Botho, Clotho und d’Artagnan, Söldner, die in Schlachten gefangen genommen und auf dem Sklavenmarkt von Tanger verkauft worden waren, dazu noch einen wilden Serben namens Konstantin, den man bei der Belagerung von Novo Brdo aufgegriffen hatte. Doch obwohl diese Informationen wichtig waren, verfiel Il Machia in einen Tagtraum, als er die kleinen Zuckungen betrachtete, die beim Reden über das Gesicht des Gedächtnispalastes huschten. Ja, Argalia war irgendwo aufgewachsen und hatte diverse Taten vollbracht, und all das waren Informationen, über die er verfügen sollte, gewiss, aber vor allem waren da diese sanft sich regenden Rundungen ihrer Lippen und Wangen, die präzisen Bewegungen von Zunge und Kiefer, der Schimmer ihrer Alabasterhaut.
Manchmal lag er in Percussina unweit vom Hof auf der blätterweichen Erde im Wald und lauschte dem Zweitongesang der Vögel: hoch tief hoch, hoch tief hoch tief, hoch tief hoch tief hoch. Dann wieder sah er einem Waldbach zu, sah das Wasser übers Kieselbett plätschern und betrachtete die winzigen Modulationen von Welle und Strom. So war der Körper einer Frau. Beobachtete man ihn aufmerksam, konnte man sehen, wie er sich im Takt der Welt bewegte, erkannte einen tiefer liegenden Rhythmus, die Musik unterhalb der Musik, die Wahrheit unterhalb der Wahrheit. Er glaubte an diese verborgene Wahrheit, wie andere Menschen an Gott oder an die Liebe glauben, glaubte, dass die Wahrheit eigentlich immer verborgen blieb, dass das Offensichtliche, das Augenscheinliche unweigerlich eine Lüge sein musste. Und da er jemand war, der das Präzise liebte, wollte er die verborgene Wahrheit möglichst genau erfassen, wollte sie deutlich sehen und festschreiben, die Wahrheit jenseits unserer Vorstellungen von Gut und Böse, von Wahr und Falsch, Schön und Hässlich, die alle nur Aspekte der oberflächlichen Beschreibung unserer Welt sind und wenig mit dem zu tun haben, wie die Dinge tatsächlich funktionieren, losgelöst von der Wesenheit, den geheimen Codes, den verborgenen Formen, den Mysterien. Hier, am Körper dieser Frau, ließ sich das eigentliche Mysterium erkennen, an diesem scheinbar reglosen Wesen, dessen Persönlichkeit ausgelöscht worden war oder unter einer schier unendlichen Geschichte begraben lag, in labyrinthischen Geschichtenräumen, in denen man mehr Erzählungen verborgen hatte, als er hören wollte. Eine delikate Schlafwandlerin war sie, eine Leerstelle. Während er sie betrachtete, während er aufknöpfte und streichelte, strömten die auswendig gelernten Worte aus ihr heraus. Ohne alle Gewissensbisse entblößte er ihre Nacktheit, berührte sie ohne jedes Schamgefühl, streichelte sie ohne Reue. Er war der Wissenschaftler ihrer Seele. Aus den kleinsten Bewegungen einer Braue, dem Zucken eines Oberschenkelmuskels, einer plötzlichen Bewegung im linken Winkel der Oberlippe schloss er, dass sie lebte. Ihre Persönlichkeit, dieser allerhöchste Schatz, war unversehrt. Die Frau schlief nur und konnte geweckt werden. Er flüsterte ihr ins Ohr: «Dieses Mal erzählst du deine Geschichte ein letztes Mal. Lass sie los, während du sie erzählst.» Langsam, Satz um Satz, Episode um Episode, würde er den Gedächtnispalast abtragen und ein menschliches Wesen befreien. Er knabberte an ihrem Ohr und sah wie zur Antwort ein winziges Neigen ihres Kopfes. Er massierte ihren Fuß, und grazil bewegte sich ein Zeh. Er streichelte ihre Brust, und schwach, so schwach, dass es nur jemand sehen konnte, der nach der tieferen Wahrheit suchte, krümmte sie den Rücken. Was er tat, war nicht falsch. Er war ihr Erlöser. Sie würde ihm danken, wenn die Zeit gekommen war.

Bei der Belagerung von Trapezunt regnete es Tag um Tag. Tataren und andere Heiden lauerten in den Bergen. Der Weg von den Hügeln herab wurde zum Schlammbad, das den Pferden bis an den Bauch reichte. Man zerstörte die Vorratswagen und bettete ihre Ladung auf Kamelrücken um. Ein Kamel stürzte, eine Schatztruhe zerbrach; sechzigtausend Goldstücke fielen auf den Abhang und lagen für jedermann sichtbar da. Sogleich zogen der Held, die Schweizer Riesen und der Serbe ihre Säbel um den Reichtum zu bewachen, bis der Herrscher eintraf Danach vertraute der Sultan dem Helden mehr, als er seinen eigenen Verwandten traute.
Endlich schwand die Steifheit aus ihren Gliedern, und sie lag locker und einladend auf seidenem Laken. Die Geschichten, die sie jetzt erzählte, waren neueren Datums. Argalia war mittlerweile erwachsen und beinahe ebenso alt wie n Machia und Ago. Ihre Chronologien hatten sich wieder angeglichen. Bald würde sie zum Ende kommen, und dann wollte er sie wecken. Giulietta, die ruffiana, ein ungeduldiger Mensch, beschwor ihn, sie zu nehmen, solange sie noch schlief. «Steckt ihn rein. Macht schon. Ihr braucht nicht vorsichtig zu sein. Besorgt es ihr nur ordentlich. Das wird ihr schon die Augen öffnen.» Doch er hatte beschlossen, sie nicht zu schänden, sondern zu warten, bis sie von allein erwachte, und Alessandra Fiorentina gab ihm recht. Der Gedächtnispalast war eine außergewöhnliche Schönheit und wollte mit Feingefühl genommen werden. So viel Respekt hatte sie verdient, auch wenn sie nur Sklavin im Haus einer Kurtisane war. Gegen Vlad 111., Kazikli Bey, den Woiwoden der Walachei, gegen Vlad «Dracula», den «Drachen-Teufel», den Pfähler-Fürsten, konnte keine sterbliche Macht bestehen. Über Fürst Vlad erzählte man sich, er trinke das Blut seiner aufgespießten Opfer, noch während sie sich in Todesqualen am Pfahl wanden, und dieses Blut lebendiger Männer und Frauen verleihe ihm eine seltsame Macht über den Tod, weshalb er nicht getötet werden, nicht sterben könne. Er sei die Bestie der Bestien. Er schnitt getöteten Männern die Nasen ab und schickte sie dem Fürsten von Ungarn, um mit seiner Tapferkeit zu prahlen. Solche Geschichten versetzten die Armee in Angst und Schrecken, weshalb sie sich nicht gerade auf den Marsch zur Walachei freute. Um die Janitscharen anzufeuern, ließ der Sultan daher dreißigtausend Goldstücke unter ihnen verteilen und sagte seinen Männern, wenn sie siegten, erhielten sie Anspruch auf Besitz. sowie das Recht, wieder ihre ursprünglichen Namen tragen zu dürfen. Vlad, der Teufel, hatte schon ganz Bulgarien gebrandschatzt und fünfundzwanzigtausend Menschen auf hölzerne Pfähle gespießt, dabei besaß er weniger Soldaten als die osmanische Armee. Wenn er sich zurückzog, hinterließ er verbrannte Erde, vergiftete Brunnen und geschlachtetes Vieh. Als das Heer des Sultans folglich ohne Wasser und Lebensmittel festsaß befahl der Teufelskönig Überraschungsangriffe. Viele Soldaten verloren ihr Leben, und ihre Leichen wurden auf gespitzte Pfähle gespießt. Dann wich Dracula nach Targoviste aus, und der Sultan verkündete, hier müsse sich der Teufel zur letzten Schlacht stellen.

Doch in Targoviste erwartete sie ein schrecklicher Anblick. Zwanzigtausend Männer, Frauen und Kinder waren vom Teufel auf einem Palisadenzaun rund um die Stadt aufgespießt worden, nur um der herannahenden Armee zu zeigen, was sie erwartete. Säuglinge klammerten sich an ihre gepfählten Mütter, in deren faulenden Brüsten Krähen ihre Nester bauten. Von diesem Anblick, diesem Wald aufgespießter Menschen, war der Sultan derart angewidert, dass er seinen entsetzten Truppen den Rückzug befahl. Anscheinend sollte der Feldzug mit einer Katastrophe enden, doch da trat der Held mit seinen Getreuen vor. «Wir tun, was getan werden muss», sagte er, und einen Monat später kehrte der Held nach Stambul zurück, in seinem Gepäck ein Krug Honig mit dem eingelegten Kopf des Teufels. Wie sich herausstellte, war Dracula trotz aller gegenteiligen Gerüchte doch sterblich gewesen. Seinen Leichnam hatte man aufgespießt, wie er selbst so viele Menschen aufgespießt hatte, und man überließ ihn den Mönchen des Klosters Snagov, auf dass sie ihn beerdigten, wann immer sie es für angemessen hielten. In diesem Augenblick begriff der Sultan endlich, dass es sich bei dem Helden um ein übermenschliches Wesen handelte, dem verzauberte Waffen gehörten und dessen Gefährten ebenfalls mehr als bloß menschlich waren. Man erkannte ihm die höchste Ehre des osmanischen Sultanats zu, den Rang des Trägers der Verwunschenen Lanze. Außerdem wurde er zum freien Mann erklärt. «Von jetzt an», sagte der Sultan, «bist du so sehr meine rechte Hand, wie es mir meine eigene Hand ist und du sollst auch keinen Sklavennamen mehr tragen, denn du bist nicht länger irgendeines Mannes Mameluck oder Abd; dein Name sei Pascha Arcalia, der Türke.» Welch schönes Ende, kommentierte Il Machia trocken in Gedanken. Hat unser alter Freund also doch sein Glück gemacht. Hier konnte der Gedächtnispalast den Bericht ebenso gut beenden wie an irgendeiner anderen Stelle. Also legte er sich zu ihr und stellte sich Nino Argalia als orientalischen Pascha vor, dem, umlagert von den Schönen des Harems, barbrüstige nubische Eunuchen frische Luft zufächelten. Er ekelte sich vor diesem Bild eines Renegaten, eines christlichen Konvertiten zum Islam, der sich an den Fleischtöpfen des verlorenen Konstantinopel gütlich tat, dem neuen Konstantiniyye, von den Türken auch Stambul genannt, der in der Moschee der Janitscharen betete, achtlos an der gefallenen, zerbrochenen Statue von Kaiser Justinian vorüberschritt und sich an der wachsenden Macht der Feinde des Westens erfreute. Solch eine verräterische Verwandlung mochte einen gutmütigen Naivling wie Ago Vespucci beeindrucken, der in Argalias Reise nur eines jener aufregenden Abenteuer sah, die er selbst nicht erleben wollte, doch für Niccolo sprengte sein Verhalten die Bande ihrer Freundschaft, weshalb sie sich, sollten sie einander je wieder begegnen, gewiss als Feinde gegenüberstünden, denn Argalias Abtrünnigkeit war ein Verbrechen gegen die tieferen Wahrheiten, gegen die ewigen Wahrhaftigkeiten von Macht und Verwandtschaft, diesen Triebkräften der menschlichen Geschichte. Argalia hatte sich gegen seinesgleichen gewandt, und der eigene Stamm zeigte sich gegenüber solchen Menschen niemals nachsichtig. Allerdings kam es Il Machia gar nicht in den Sinn - zumindest viele Jahre lang nicht -, dass er seinen Freund aus Kindertagen vielleicht niemals wiedersehen würde .

Die Zwergin Giulietta Veronese steckte den Kopf durch die Tür. «Nun?» Niccolo nickte besonnen. «Ich schätze, Signora, sie wird bald erwachen und wieder ganz sie selbst sein. Was mich und meine kleinen Handreichungen betrifft, die geholfen haben mögen, ihre Persönlichkeit wiederherzustellen - jene Würde, die, wie uns der große Pico sagt, das Zentrum unserer Menschlichkeit ausmacht -, so gestehe ich, durchaus ein wenig Stolz zu empfinden.»
Vor schierer Verzweiflung blies die ruffiana laut durch ihre Mundwinkel aus. «Wurde aber auch Zeit», sagte sie und zog sich wieder zurück.
Fast im selben Moment begann der Gedächtnispalast, im Schlaf zu murmeln. Die Stimme gewann an Kraft, und Niccolo begriff, dass die letzte Geschichte erzählt wurde, jene Geschichte, die das Hirn besetzt hielt, die beim Durchgang durch diese letzte Tür erzählt werden musste, damit die Schöne wieder zu normalem Leben erwachen konnte: die eigene Geschichte, rückwärtserzählt, so als liefe die Zeit in umgekehrter Richtung ab. Mit wachsendem Entsetzen sah er die Umstände ihrer Indoktrination vor sich Gestalt annehmen, sah den Nekromanten von Stambul, den langhütigen, langbärtigen Sufi-Mystiker des Bektaschi-Ordens, den Adepten der mesmerischen Künste und des Baus von Gedächtnispalästen, der im Auftrag eines frisch gekürten Paschas handelte und dessen Heldentaten dem Gedächtnis dieser Gefangenen anvertraute, der ihr Leben löschte, um Platz für Argalias fraglos sehr selbstverherrlichende Version seiner Person zu schaffen. Der Sultan hatte ihm die versklavte Schöne geschenkt, und er hatte nichts Besseres damit anzufangen gewusst. Barbar! Verräter! Wäre er doch mit seinen Eltern an der Pest krepiert! Wäre er doch ersoffen, als Andrea Doria ihn im Ruderboot aussetzte! Selbst wenn ihn der walachische Vlad Dracula gepfählt hätte, wäre das für ihn keine zu harte Strafe gewesen.
Diese und andere wütende Gedanken tobten in Il Machias Kopf, als wie aus dem Nichts ein ungewolltes Bild aus der Vergangenheit aufstieg: Argalia, der Junge, der ihn wegen der Grießbreikur seiner Mutter hänselte. «Nicht die Machiavelli, sondern die Polentini.» Und ihm war, als hörte er Argalias altes Lied über ein Grießbreimädchen. Wäre sie eine Sünde, würde ich sie begehen, wäre sie to~ tät ich mich nach ihr sehnen. Il Machia merkte, wie ihm Tränen über die Wangen rannen. Und er sang vor sich hin: Wäre sie ein Bote, hätte ich sie gesandt, sang aber so leise, dass er die Jungfer aus Fleisch und Blut nicht störte, die er aus dem Palast des Kummers zurückgeholt hatte. Er war allein mit seinen Gedanken an Argalia, mit seiner frischen Wut und der alten, süßen Erinnerung an die Kindheit, und er weinte.
Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques Creur de Bourges, Kaufmann aus Montpellier. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques Creur. Mein Vater war ein Händler und brachte Nüsse, Seide und Teppiche aus Damaskus nach Narbonne. Man beschuldigte ihn fälschlicherweise, die Mätresse des Königs von Frankreich vergiftet ZU haben, also floh er nach Rom. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques Creur; den der Papst mit Ehren überhäufte. Man machte ihn zum Kapitän von sechzehn päpstlichen Galeeren und sandte ihn zum Entsatz nach Rhodos, doch erkrankte er unterwegs und starb. Ich heiße Angelique, und ich gehöre zur Familie von ]acques Creur. Während meine Brüder und ich in Geschäften mit der Levante unterwegs waren, wurde ich von Piraten entführt und als Sklavin an den Sultan von Stambul verkauft. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques Creur. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter. Ich heiße Angelique, und ich bin. Ich heiße Angelique. In jener Nacht schlief er an ihrer Seite. Wenn sie erwachte, wollte er ihr erzählen, was geschehen war, wollte sanft und freundlich sein, und sie würde ihm danken, würde ganz die Dame sein, die sie einst gewesen war, eine Frau aus wohlhabendem Kaufmannshaus. Ihn bedrückte, welch Unglück sie erlitten hatte. Zweimal war sie von den Berberpiraten gefangen genommen worden, erst von den Franzosen, dann von den Türken; wer weiß, welche Misshandlungen sie erdulden musste, wie viele Männer sie besessen hatten und woran sie sich erinnerte. Aber noch war sie nicht frei. Edel wie eine Aristokratin sah sie aus, aber sie war bloß eine Gespielin im Haus der Freuden. Falls ihre Brüder noch lebten, würden sie sich gewiss freuen, wenn sie zurückkehrte, ihre verschollene Schwester, ihre verlorene, geliebte Angelique. Sie würden sie Alessandra Fiorentina abkaufen, sodass sie nach Hause zurückkonnte, wo immer ihr Zuhause auch sein mochte, in Narbonne, in Montpellier oder in Bourges. Vielleicht durfte er sie vögeln, ehe es dazu kam. Er wollte das am Morgen mit der ruffiana besprechen. Schließlich war ihm das Haus Mars noch etwas schuldig, da er den Wert beschädigter Ware vervielfachen konnte. Herrliche Angelique, schmerzensreiche Angelique. Er hatte etwas Wunderbares und beinahe Selbstloses vollbracht.

In jener Nacht kam ihm ein seltsamer Traum. Ein orientalischer padishah saß bei Sonnenuntergang unter einer kleinen Kuppel hoch oben in einem fünfstöckigen, pyramidenförmigen Gebäude aus rotem Sandstein und blickte hinab auf einen goldenen See. Leibdiener schwangen hinter ihm mächtige Federfächer, und neben ihm stand ein europäisch aussehender Mann, vielleicht auch eine Frau, jedenfalls eine Gestalt mit langem gelbem Haar in einem Mantel aus bunten Lederflicken, und dieser Jemand erzählte eine Geschichte über eine verschwiegene Prinzessin. Der Träumer sah die gelbhaarige Gestalt nur von hinten, doch war der padishah klar zu erkennen, ein großer, hellhäutiger Mann mit gewaltigem Schnurrbart, attraktiv, schmuckbehängt, allerdings ein wenig zu fettleibig. Es waren fraglos Traumgestalten, die er da heraufbeschworen hatte, denn der Fürst konnte keinesfalls der türkische Sultan sein, und der gelbhaarige Höfling hörte sich ganz und gar nicht wie ein erst kürzlich ernannter italienische Pascha an.
«Ihr redet nur von der Liebe zweier Liebender», sagte der padishah, «wir aber denken an die Liebe eines ganzen Volkes für seinen Herrn, denn wir haben ein großes Verlangen danach, geliebt zu werden.»
«Die Liebe ist launisch», erwiderte der andere Mann. «Heute liebt man Euch, morgen vielleicht schon nicht mehr.»
«Was dann?», fragte der padishah. «Sollen wir zum grausamen Tyrannen werden? Sollen wir so regieren, dass man uns zu hassen beginnt?»
«Nicht zu hassen, aber zu fürchten», antwortete der Gelbhaarige. «Denn allein die Furcht ist von Dauer.» «Seid kein Narr», entgegnete ihm der padishah. «Jedermann weiß, dass Furcht sich sehr wohl mit Liebe verträgt.»
Geschrei, Licht und offene Fenster weckten ihn, und überall hasteten Frauen umher, während die Zwergin Giulietta ihm ins Ohr schrie: «Was habt Ihr mit ihr gemacht?» Kurtisanen ohne den üblichen Schick, Haare zerzaust, Gesichter ungeschminkt und ungewaschen, die Nachtgewänder verrutscht, rannten kreischend von Zimmer zu Zimmer. Die Türen waren weit aufgerissen, und Tageslicht, das Gegengift jeden Zaubers, strömte mit brutaler Helligkeit durch das Haus Mars. Was für Drachen diese Weiber doch waren, welch elende, unflätige Nager mit Mundgeruch und hässlichen Stimmen! Er setzte sich auf und langte nach seinen Kleidern. «Was habt Ihr getan?» Nichts hatte er getan. Er hatte ihr geholfen, ihr den Kopf frei gemacht, ihren Geist erlöst und sie kaum angerührt. Der ruffiana schuldete er jedenfalls bestimmt kein Geld. Warum setzte sie ihm bloß so zu? Weshalb die ganze Aufregung? Am besten verließ er gleich das Haus. Er würde zu Ago, Biagio und di Romolo gehen und erst einmal frühstücken. Bestimmt gab es auch allerhand Arbeit zu erledigen. «Ihr blöder Ochse», schrie Giulietta Veronese, «mischt Euch in Dinge ein, von denen Ihr nichts versteht.» Irgendetwas war geschehen. Er war jetzt anständig angezogen und eilte mit aller Würde, die er aufbringen konnte, durch das entzauberte Haus Mars. Kurtisanen verstummten, wenn er an ihnen vorüberkam. Manche zeigten mit dem Finger auf ihn; ein, zwei Frauen fauchten wütend. Im großen Salon war auf der Seite, die zum Arno ging, eines der Fenster zerschlagen. Er musste in Erfahrung bringen, was vorgefallen war. Doch plötzlich stand die Herrin des Hauses vor ihm, La Fiorentina, auch ohne jede kosmetische Hilfe immer noch schön. «Herr Sekretär», sagte sie mit eisiger Höflichkeit. «Ihr werdet in diesem Haus nie wieder willkommen sein.» Dann verschwand sie mit wehenden Unterröcken, und das Geschrei, das Wehklagen begann aufs Neue. «Gott verfluche Euch», sagte Giulietta, die kupplerische rufftana. «Sie war einfach nicht aufzuhalten. Sie rannte aus dem Zimmer, in dem Ihr wie ein verwesender Leichnam geschlafen habt, und keiner konnte sich ihr in den Weg stellen.»
Solange du betäubt warst und von der Tragödie deines Lebens nichts ahntest, konntest du leben, doch als die Einsicht zurückkehrte, als sie gewissenhaft wiederhergestellt wurde, trieb sie dich in den Wahnsinn. Die wiedererwachte Erinnerung machte dich irre, die Erinnerung an Demütigungen, an so viele Aufdringlichkeiten, so viele Eindringlichkeiten, die Erinnerung an Männer. Kein Gedächtnispalast, sondern ein Bordell der Erinnerungen, und jenseits dieser Erinnerungen das Wissen darum, dass jene, die dich liebten, tot waren, dass es kein Entrinnen gab. Solches Wissen ließ dich aufspringen und davonrennen. Ranntest du nur schnell genug, gelang es vielleicht, der Vergangenheit zu entkommen, auch der Erinnerung an all das, was dir angetan worden war, selbst der Erinnerung an die Zukunft, an die drohende, unausweichliche Trostlosigkeit. Gab es Brüder, die dich retten konnten? Nein, deine Brüder waren tot. Vielleicht war die Welt selbst auch tot. Ja, richtig. Wollte man zur toten Welt gehören, musste man sterben. Man musste so schnell rennen, wie man konnte, bis man zur Grenze zwischen den Welten kam, nur hörte man dann nicht auf, man rannte über die Grenze, als gäbe es sie nicht, als wäre Glas bloß Luft und die Luft Glas, als zerstöbe die Luft wie Glas, wenn man fiel. Die Luft zerschlitzte einen, als bestünde sie aus lauter Messerklingen. Es tat gut zu fallen. Es tat gut, aus dem Leben zu fallen. Es war gut. «Argalia, mein Freund», sagte Niccolo zum Phantombild des Verräters. «Du schuldest mir ein Leben.»

14. Nachdem Tansen das Lied des Feuers gesungen hatte…

Nachdem Tansen das Lied des Feuers gesungen hatte, jenen 1. V deepak raag, der in dem vom Skelett und der Matratze geführten Haus Skanda allein durch die Macht der Musik sämtliche Lampen anzündete, litt der Meister an ernsthaften Verbrennungen. In der Ekstase seines Vortrags hatte er gar nicht bemerkt, wie er sich selbst versengte, als er sich im wilden Auflodern seines Genies erhitzte. In einer königlichen Sänfte schickte Akbar ihn heim nach Gwalior und bat ihn, sich auszuruhen und erst zurückzukehren, wenn seine Wunden verheilt wären. In Gwalior suchten ihn zwei Schwestern auf, Tana und Riri, die seine Verletzungen derart betrübten, dass sie megh malhar sangen, das Lied des Regens. Und obwohl Mian Tansen geschützt im Schatten lag, netzte ihn bald ein sanftes Nieseln. Es war kein gewöhnlicher Regen. Kaum begannen Riri und Tana zu singen, nahmen sie ihm die Verbände ab, damit die Tropfen die Wunden wuschen und seine Haut heilten. Ganz Gwalior war verblüfft von diesem Wunder des Regenliedes, und als Tansen nach Sikri zurückkehrte, erzählte er dem Herrscher von den herrlichen Mädchen. Gleich sandte Akbar Birbal aus, um die Schwestern an den Hof einzuladen, und er ließ ihnen zum Dank Schmuck und Gewänder überbringen. Doch als Tana und Riri sich mit Birbal trafen und hörten, was er ihnen zu sagen hatte, wurden ihre Mienen ernst; sie zogen sich zum Gespräch zurück und weigerten sich, die Geschenke des Herrschers anzunehmen. Erst einige Zeit später ließen sie sich wieder blicken und sagten Birbal, am nächsten Morgen würden sie ihm ihre Antwort geben. Birbal verbrachte die Nacht als Gast des Maharadschas von Gwalior und feierte und trank in dessen prächtigem Schloss; als er aber am nächsten Tag zu Tana und Riri zurückkehrte, herrschte tiefe Trauer im ganzen Haus. Die Schwestern hatten sich in einem Brunnen ertränkt. Als strenggläubige Brahmaninnen hatten sie dem muslimischen Herrscher nicht dienen wollen, aber gefürchtet, er könne, wenn sie sich weigerten, Akbar zu Diensten zu sein, die Absage als Beleidigung verstehen und ihre Familie darunter leiden lassen. Um dies zu verhindern, hatten sie lieber ihr Leben geopfert.
Die Neuigkeit vom Selbstmord der Schwestern mit den verzauberten Stimmen stürzte den Herrscher in tiefe Depressionen, und wenn der Herrscher deprimiert war, hielt die ganze Stadt den Atem an. Im Zelt des Neuen Kults fanden die Wassertrinker und Weinliebhaber es unmöglich, ihre Dispute fortzusetzen; sogar die königlichen Frauen und Konkubinen hörten auf, sich zu zanken. Als die Tageshitze nachließ, wartete Niccolo Vespucci, der sich Mogor dell’ Amore nannte, vor den königlichen Gemächern, wie es ihm aufgetragen worden war, doch hatte der Herrscher an diesem Tag nichts für seine Geschichten übrig. Erst kurz vor Sonnenuntergang stürmte er in Begleitung seiner Wachen und Fächerwedler aus seinem Gelass und strebte dem Panch Mahal zu. «Ach, Ihn>, rief er beim Anblick Mogors im Tone eines Mannes, der die Existenz seines Besuchers vergessen hatte, und sagte dann, während er sich bereits wieder von ihm abwandte: «Na schön, kommt mit.» Der Ring der Leiber, die den Herrscher schützten, öffnete sich, und Mogor wurde in den Kreis der Macht eingelassen. Er musste rasch ausschreiten. Der Herrscher hatte es eilig.
Unter dem Dach der kleinen Kuppel hoch oben auf dem Panch Mahal blickte der Herrscher von Hindustan über Sikris goldenen See. Hinter ihm schwangen Leibdiener große Federfächer, und neben ihm stand der gelbhaarige Europäer, der ihm eine Geschichte über eine verschwiegene Prinzessin erzählen wollte. «Ihr redet nur von der Liebe zweier Liebender», sagte der Herrscher, «wir aber denken an die Liebe eines ganzen Volkes für seinen Herrn, nach der uns verlangt, wie wir gestehen müssen. Diese Mädchen starben, weil sie die Teilung der Einheit vorzogen, ihre Götter unseren Göttern, den Hass der Liebe. Wir folgern daraus, dass die Liebe des Volkes launisch ist. Und was folgt aus diesem Schluss? Sollen wir zum grausamen Tyrannen werden? Sollen wir so regieren, dass alle Welt uns fürchtet? Ist nur die Furcht von Dauer?»

«Als der große Krieger Argalia die überirdisch schöne Qara Köz traf», erwiderte Mogor dell’Amore, «begann eine Geschichte, die den Glauben aller Menschen erneuerte - Euren Glauben, Großer Mogul, Gatte aller Gatten, Liebhaber aller Liebhaber, König aller Könige, Mann aller Männer! -, an die unsterbliche Macht und außergewöhnliche Kraft des menschlichen Herzens zur Liebe.»

Als der Herrscher schließlich vom Panch Mahal herabstieg, um sich zur Nachtruhe zu begeben, war der Mantel der Traurigkeit von seinen Schultern geglitten. Der Stadt entfuhr ein kollektiver Seufzer, und die Sterne am Himmel leuchteten ein wenig heller. Wie jedermann weiß, gefährdet die Trauer eines Herrschers die Sicherheit der Welt, da ihr die Fähigkeit zur Metamorphose eignet, zur Verwandlung in Schwäche oder in Gewalt - oder in beides. Die gute Laune des Herrschers aber ist die beste Garantie für ein ereignisloses Leben, und falls der Fremde Akbars Stimmung gebessert hatte, gebührte ihm großer Dank; er hätte sich das Recht verdient, als Freund in der Not angesehen zu werden. Der Fremde, und vielleicht auch die Heldin seiner Geschichte, die Dame Schwarzauge, Prinzessin Qara Köz.
In jener Nacht träumte der Herrscher von der Liebe. Wieder einmal war er in seinem Traum der KalifHarun al-Rashid, der unerkannt durch die Straßen einer Stadt wandelte, diesmal durch Isbanir. Plötzlich überfiel ihn, den Herrscher, ein Juckreiz:., den niemand zu heilen vermochte. Unverzüglich kehrte er in seinen Palast nach Bagdad zurück und kratzte sich pausenlos auf der zwanzig Meilen langen Reise. Kaum daheim, badete er in Eselsmilch und bat seine Lieblingskonkubinen, ihn am ganzen Körper mit Honig einzureiben. Dennoch trieb ihn der Juckreiz schier in den Wahnsinn, und die Ärzte vermochten kein Heilmittel zu finden, obwohl sie ihn schröpften und Blutegel ansetzten, bis sich die Pforten des Todes vor ihm auftaten. Also entließ er die Quacksalber, und sobald er wieder bei Kräften war, entschied er, wenn er schon nicht geheilt werden konnte, bliebe ihm wohl nichts anderes übrig, als sich derart gründlich abzulenken, dass er den Juckreiz nicht mehr spürte.

Er rief die berühmtesten Narren seines Reiches zu sich, damit sie ihn zum Lachen brachten, außerdem die weisesten Philosophen, damit sie seine Verstandeskraft herausforderten. Liebestänzerinnen weckten sein Verlangen, das die geschicktesten Kurtisanen stillten. Er baute Paläste, Straßen, Schulen und Rennbahnen, und all dies war wohlgefällig, doch linderte es den Juckreiz nicht im Mindesten. Er ließ über ganz Isbanir Quarantäne verhängen und die Gossen ausräuchern, um die Juckplage an ihrer Wurzel zu packen, doch gab es in Wahrheit nur wenige Leute, die so schlimm wie er unter der juckqual litten. Als er dann eines Nachts heimlich und verstohlen durch die Straßen Bagdads lief, sah er hoch oben in einem Fenster eine Laterne, und während er aufblickte, erhaschte er das Gesicht einer Frau, von einer Kerze erhell~ weshalb es ihm wie aus Gold erschien. Für diesen einen kurzen Moment hörte der Juckreiz vollständig auf, in derselben Sekunde aber, da sie die Läden schloss und die Kerze ausblies, meldete er sich mit verdoppelter Stärke zurück. Erst jetzt begriff der Kalif, warum er diese Qualen litt. In Isbanir nämlich hatte er ebendieses Gesicht einen gleich kurzen Moment lang aus einem anderen Fenster blicken sehen, und danach begann das jucken. «Finde sie», sagte er seinem Wesir, «denn sie ist die Hexe, die mich verzaubert hat.»

Leichter gesagt als getan. Die Männer des Kalifen brachten ihm an jedem der nächsten sieben Tage jeweils sieben Frauen, doch wenn er ihnen befahl, ihm ihr Gesicht zu zeigen, sah er sogleich, dass die Gesuchte nicht darunter war. Am achten Tag jedoch kam eine verschleierte Frau ungebeten an seinen Hof, verlangte eine Audienz und behauptete, diejenige zu sein, die den Kalifen heilen könne. Harun al-Rashid bat sie gleich zu sich. «Ihr seid also die Hexe!», rief er. «Ich bin nichts dergleichen», antwortete sie. «Doch seit ich in den Straßen von Isbanir einen Blick auf das von einer Kapuze verdeckte Gesicht eines Mannes geworfen habe, hat mich ein unerträgliches jucken überfallen. Ich verließ sogar meine Heimatstadt und zog hierher nach Bagdad, in der Hoffnung, der Umzug würde mein Leid lindern, doch nichts hat geholfen. Ich habe versuch~ mich abzulenken, mich zu beschäftigen, habe große Teppiche gewebt und viele Gedichte geschrieben, aber genützt hat es nichts. Dann hörte ich, dass der Kalif von Bagdad nach einer Frau such~ deren Anblick einen Juckreiz bei ihm ausgelöst hatte, und da kannte ich die Antwort auf dieses Rätsel.»
Mit diesen Worten schlug sie kühn den Schleier zurück, und auf der Stelle legte sich der Juckreiz des Kalifen und wurde von einem völlig anderen Gefühl verdrängt. «Bei dir auch?»fragte er, und sie nickte. «Kein jucken mehr. Stattdessen etwas anderes.» - «Auch eine Empfindung, die kein Mann heilen kann», sagte Harun al-Rashid. «Und in meinem Fall keine Frau», erwiderte sie. Der Kalif klatschte in die Hände und kündete seine bevorstehende Hochzeit an; und er und die Begum lebten glücklich bis, ja bis der Tod kam, das Ende aller Tage. Dies war der Traum des Herrschers. Kaum verbreitete sich in den edlen Villen Sikris und den gemeinen Gassen der Stadt die Geschichte der verschwiegenen Prinzes- sin, erfasste die Hauptstadt ein träges Delirium. Ohne Unterlass begann man, von der Schönen zu träumen, Frauen wie Männer, Höflinge wie Straßengören, sadhus wie Huren. Die verschwundene Mogulzauberin aus dem fernen Herat, das Argalia, ihr Geliebter, später einmal das «Florenz des Ostens» nennen sollte, bewies, dass ihre Macht weder vom Lauf der Jahre noch gar von ihrem höchstwahrscheinlichen Tod geschmälert worden war. Sie verzauberte selbst die Königinmutter Hamida Bano, die gewöhnlich gar keine Zeit für Träume hatte, jene Qara Köz aber, die Hamida Bano im Schlaf sah, war der wahre Inbegriff muslimischer Hingabe und züchtigen Benehmens. Keinem fremden Ritter wurde es gestattet, ihre Reinheit zu beschmutzen; die Trennung von ihrem Volk bereitete der Prinzessin großen Kummer, obwohl daran, das muss hier gesagt werden, ihre ältere Schwester die Schuld trug. Die alte Prinzessin Gulbadan hingegen erträumte sich eine gänzlich andere Qara Köz, eine freigeistige Abenteurerin, deren ungenierte, gar gotteslästerliche Fröhlichkeit ein wenig schockierend, doch stets höchst unterhaltsam war, und die Geschichte ihrer Liaison mit dem attraktivsten Mann der Welt war so köstlich, dass Prinzessin Gulbadan sie beneidet hätte, wäre sie dazu in der Lage gewesen, genoss sie es doch viel zu sehr, mehrere Nächte die Woche diese Liebe gleichsam stellvertretend zu erleben. Für das Skelett dagegen, die Herrin von Haus Skanda am See, wurde Qara Köz zur Verkörperung weiblicher Sexualität schlechthin, zu einer Frau, die allnächtlich schier unglaubliche gymnastische Verrenkungen zum voyeuristischen Vergnügen der Kurtisane vollbrachte. Allerdings bescherte die verschwiegene Prinzessin nicht nur angenehme Träume. Dame Man Bai, die Geliebte des Thronfolgers, fand, das absurde Theater um die verschwundene Frau lenke nur von ihr selbst ab, der künftigen Königin Hindustans, die schon aufgrund ihrer Jugend und ihrer Bestimmung Mittelpunkt der Phantasien ihrer Untergebenen sein sollte. Und Jodha, Königin Jodha, die allein in ihren Gemächern saß, unbesucht von ihrem Schöpfer und König, begriff, dass ihr die Ankunft der verschwiegenen Prinzessin eine imaginäre Rivalin bescherte, deren Macht sie vielleicht nicht standhalten konnte.
Offenbar bedeutete Dame Schwarzauge vielen Menschen alles Mögliche, sei sie ein Beispiel, eine Geliebte, Widersacherin oder Muse; in ihrer Abwesenheit wurde sie wie ein Behältnis genutzt, in das die Menschen ihre Vorlieben schütteten, ihre Abneigungen, Vorurteile, Eigenarten, Geheimnisse, Bedenken und Freuden, aber auch die nicht verwirklichten Seiten ihrer Persönlichkeit, ihre Schatten, ihre Unschuld und Schuld, ihre Zweifel und Gewissheiten, die großzügigsten und widerwilligsten Reaktionen auf ihrem Weg durch die Welt. Und ihr Erzähler, Niccolo Vespucci, der «Mogul der Liebe», der neue Günstling des Herrschers, wurde rasch zum gefragtesten Gast der Stadt. Am Tage standen ihm sämtliche Türen offen, und bei Nacht war die begehrteste aller nur erdenklichen Auszeichnungen eine Einladung zu seinem bevorzugten Refugium, dem Haus Skanda, dessen beiden Königinnen, der dürren und der dicken Doppelgottheit, es längst freistand, unter Sikris Großen und Mächtigen zu wählen. Vespuccis monogame Beziehung zum knochigen, unermüdlichen Skelett Mohini fand man allgemein bewundernswert. «Die Hälfte der Damen Sikris würde Euch die Hintertür öffnen», gestand sie ihm erstaunt. «Kann ich denn wirklich alles sein, was Ihr begehrt?»
Beschwichtigend schloss er sie in seine Arme. «Du solltest wissen», sagte er, «dass ich den weiten Weg nicht gekommen bin, um hier herumzuvögeln.»
Warum aber war er gekommen? Das war eine Frage, die viele der klügsten Köpfe der Stadt wie auch einige ihrer gehässigsten Geister beschäftigte. Das wachsende Interesse der Bürgerschaft an des fernen Florenz’ Trinkgelage bei Tage und seinem sexbesessenen Nachtleben, das Mogor dell’Amore während lang an-dauernder Bankette in aristokratischen Villen und nach einigen Gläsern Rum in den Feierabendspelunken der niederen Stände schilderte, weckte in manch einem den Verdacht, es handele sich dabei um eine hedonistische Verschwörung, die jegliche moralische Widerstandskraft des Volkes schwächen sowie die moralische Autorität des Einen Wahren Gottes untergraben sollte. Badauni, der puritanische Anführer der Wassertrinker und Mentor des immer rebellischer werdenden Kronprinzen Salim, hasste Vespucci, seit er mit dem Fremden im Zelt des Neuen Kultes aneinander geraten war. Inzwischen hielt er ihn für ein Werkzeug des Teufels. «Als hätte Euer zunehmend gottloser Vater diesen satanischen Homunkulus heraufbeschworen, damit er ihm helfe, das Volk zu verderben», sagte er zu Salim und fügte mit drohendem Unterton hinzu: «Es muss etwas getan werden, falls denn jemand Manns genug ist, es zu tun.»
Prinz Salims Gründe für seine Allianz mit Badauni waren allerdings bloß jugendlicher Natur, hatte er sich doch mit Abul Fazls Gegner allein deshalb verbündet, weil Abul Fazl der engste Vertraute seines Vaters war. Puritanismus lag ihm fern, schließlich war er Sybarit in einem Maße, das Badauni entsetzt hätte, wäre dem dünnen Mann denn gestattet worden, darüber Bescheid zu wissen. Folglich blieb Salim unbeeindruckt von Badaunis Theorie, der Herrscher könnte aus der Hölle einen Dämon der Lust heraufbeschworen haben. Er mochte Vespucci nicht, weil der Fremde als einziger Kunde des Hauses Skanda frei über Madame Skelett verfügen konnte; und trotz der immer hektischer werdenden Gefälligkeiten von Dame Man Bai war des Kronprinzen Sehn-sucht nach Mohini im Laufe der Jahre noch gewachsen. «Ich bin der nächste Herrscher», sagte er sich wütend, «und dennoch verweigert man mir in diesem arroganten Lusthaus die einzige Frau, nach der es mich verlangt.» Die Dame Man Bai reagierte äußerst ungehalten, als sie erfuhr, dass ihr Verlobter sich noch immer sehnlichst wünschte, die einstige Sklavin zu vögeln. Ihre Wut paarte sich mit dem Hass auf jene Traumprinzessin, die Vespucci heimlich in die Träume all ihrer Bekannten geschmuggelt hatte, und schwoll zur suppenden Eiterbeule ihrer Psyche an, die irgendwie, vermutlich mit Gewalt, aufgestochen werden musste.
Als sich Salim das nächste Mal dazu herabließ, ihr einen Besuch abzustatten, gab sie sich so verführerisch, wie sie nur konnte; sie steckte sich eine Traube zwischen die Zähne, damit er mit der Zunge danach angelte. «Wisst Ihr eigentlich, mein Lieber, welche Folgen, welche weitreichenden und gefährlichen Folgen es für Euch hat, wenn dieser Mogor den Herrscher von seiner Abstammung zu überzeugen vermag,,, murmelte sie ihrem Geliebten fragend ins Ohr, «oder, was noch wahrscheinlicher ist, wenn der Herrscher aus Gründen, die nur er selbst kennt, an diese Abstammung zu glauben vorgibt?,, Prinz Salim war für gewöhnlich darauf angewiesen, dass andere Menschen ihm derart Komplexes wie die weitreichenden Folgen eines Sachverhalts darlegten, weshalb er Dame Man Bai bat, sie ihm zu erläutern. «Versteht Ihr denn nicht, 0 künftiger König von Hindustan,,, schnurrte sie, «dass Eurem Vater dadurch die Behauptung ermöglicht würde, ein anderer habe größeres Anrecht auf den Thron als Ihr? Und was wäre - sollte das zu weit hergeholt klingen -, wenn er diesen Speichellecker als seinen Sohn adoptierte? Ist Euch der Thron etwa nicht mehr wichtig? Oder werdet Ihr darum kämpfen, mein Lieber? Als die Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht, als künftig Königin an Eurer Seite zu sein, täte es mir leid, wenn ich erfahren sollte, dass Ihr kein König in spe mehr seid, sondern nur noch ein Käfer ohne Rückgrat.,,
Sogar die engsten Vertrauten des Herrschers reagierten mit zunehmender Skepsis und wachsendem Misstrauen gegenüber Mogor dell’ Amores wahren Absichten und seiner Anwesenheit am Hofe. Die Königinmutter Hamida Bano hielt ihn für einen Agenten des ungläubigen Westens, der geschickt worden war, ihr heiliges Königreich zu schwächen und in Verwirrung zu stürzen. Nach Ansicht von Birbal und Abul Fazl war er zweifellos ein übler Schurke, der wegen einer grausigen Tat von daheim geflohen war, ein Betrüger, der sich in ein neues Leben drängte, da ihm das alte nicht länger lebenswert schien. Vielleicht wollte man ihn verbrennen, ihn aufhängen, vierteilen oder doch zumindest foltern und einsperren, falls er dorthin zurückkehrte, woher er kam. «Wir sollten uns nicht wie die ahnungslosen, leichtgläubigen Menschen aus dem Osten benehmen, für die er uns offenbar hält», sagte Abul Fazl. «Was zum Beispiel den Tod von Lord Hauksbank betrifft, so habe ich nie an seiner Schuld gezweifelt.»
Birbals Sorge galt dem Herrscher selbst. «Ich glaube nicht, dass er Euch ein Leid zufügen will», sagte er, «doch hat er Euch mit einem Zauber belegt, der Euch letzten Endes schaden mag, da er Euch von jenen wichtigen Dingen ablenkt, denen Euer Augenmerk eigentlich gelten sollte.»
Der Herrscher war keineswegs überzeugt und neigte zu Mitgefühl. «Er ist ein Heimatloser, der einen Platz in der Welt sucht», sagte er zu seinen Vertrauten. «Am Fuße des Hügels hat er sich im Haus Skanda, einer Stätte des Vergnügens, eine Art Heim geschaffen und lebt unter eheähnlichen Umständen mit einer klapperdürren Hure zusammen. Wie sehr muss es ihn da nach Liebe verlangen! Einsamkeit ist des Wanderers Los; er ist ein Fremdling, wohin er auch geht, und überlebt allein durch pure Willenskraft. Wann hat ihn zuletzt eine Frau gelobt und ihn ihren Schatz genannt? Wann hat er sich zuletzt geliebt, geehrt oder auch nur geachtet gefühlt? Wenn einen nicht nach einem anderen Menschen verlangt, beginnt etwas zu sterben. Der Optimismus versiegt, 0 weiser Birbal. Abul Fazl, 0 behutsamer Beschützer, eines Menschen Kraft ist nicht unerschöpflich. Ein Mann braucht des Tags einen Mann, der sich ihm zuwendet, und eine Frau, die sich des Nachts in seine Arme schmiegt. Wir glauben, unser Mogor hat eine solche Stärkung schon lange nicht mehr erfahren. Es glühte ein Licht in ihm, als wir ihn trafen, das war schon fast erloschen, doch leuchtet es in unserer - oder in ihrer, der mageren Mohini - Gesellschaft von Tag zu Tag heller. Vielleicht rettet sie ihm das Leben. Falls es stimmt, wissen wir nicht, wie dieses Leben gewesen ist. Sein Name, erzählte uns Pater Acquaviva, ist in seiner Stadt berühmt; sollte dem wirklich so sein, fehlt ihm heute die entsprechende Protektion. Wer weiß schon, warum er verstoßen wurde? Wir finden jedenfalls, dass er uns erfreut, und vorläufig liegt uns nichts daran, seine Geheimnisse zu ergründen. Mag sein, er ist ein Verbrecher, vielleicht sogar ein Mörder, das können wir nicht sagen. Wir wissen nur, dass er um die halbe Welt reiste, um eine Geschichte hinter sich zu lassen und eine andere zu erzählen, dass die Geschichte, die er uns brachte, sein ganzes Gepäck war und dass sein innerstes Verlangen jenem von Dashwanth gleicht - soll heißen, er will in die Geschichte eindringen, die er erzählt, und darin ein neues Leben beginnen. Kurz und gut, er ist wie ein Geschöpf der Fabelwelt, und ein gutes afsanah, ein Abenteuer, hat noch nie jemandem geschadet.» «Mein Herr, ich hoffe, wir müssen zu unseren Lebzeiten nicht mehr am eigenen Leibe erfahren, wie töricht diese Bemerkung ist», erwiderte Birbal mit ernster Miene. Der Ruf der verstorbenen Khanzada Begum, der älteren Schwester der verschwiegenen Prinzessin, verschlechterte sich in ebendem Maße, in dem die Schwärmerei der Stadt für die jüngere Schwester zunahm. Jene große Dame, die nach ihrer triumphalen Rückkehr aus Jahren der Gefangenschaft bei Shaibani Khan zur Heldin am Hof von Akbars Vater Babar avanciert war, um in der Folge eine starke Machtstellung im Mogulhaushalt einzunehmen, eine Frau, die man in allen Staatsangelegenheiten zu Rate weg, wurde nun zum Inbegriff aller grausamen Schwestern, und ihr einst so verehrter Name verkam zu einer Beleidigung, die Frauen sich wütend an den Kopf warfen, wenn sie gegeneinander Vorwürfe der Eitelkeit, Eifersucht, Engstirnigkeit oder des Verrats erhoben. Viele Menschen begannen den Verdacht zu hegen, dass die verschwiegene Prinzessin sich ebenso wegen der Behandlung, die ihrer Schwester in den Händen von Khanzada widerfahren war, wie wegen ihrer Vernarrtheit in einen ausländischen Pascha aus dem Hause getrieben fühlte, eine Wahl übrigens, die auf rätselhaften, unbekannten Wegen in völlige Vergessenheit geraten war. Der öffentliche Widerwille gegen die «böse Schwester» sollte im Laufe der Zeit aber noch schlimme Folgen haben. Etwas Garstiges stieg aus der Geschichte auf, ein grünliches, pestilentes Wölkchen der Zwietracht schwebte aus der Geschichte empor und infizierte die Frauen von Sikri, weshalb dem Palast Berichte über bittere Streitigkeiten zwischen zuvor sich liebenden Schwestern zu Ohren kamen, über Unterstellungen und Klagen, unüberbrückbare Brüche und extreme Entfremdungen, über Gezänk und gar über Messerstechereien, über das Aufbrodeln von Unmut und einen Groll, von dem die fraglichen Frauen kaum etwas geahnt hatten, ehe Khanzada Begum vom Fremden mit dem gelben Haar die Maske vom Gesicht gezogen worden war. Dann breiteten sich die Unruhen immer weiter aus, bis schließlich sogar Vettern und Cousinen betroffen waren, danach entferntere Verwandte und schließlich alle Frauen, ob nun verwandt oder nicht; und selbst im Harem des Herrschers schwoll ein feindseliger Tumult in bislang ungekanntem und schlichtweg inakzeptablem Maße an.

«Frauen haben von jeher über Männer geklagt», sagte Birbal, «die haben sie schließlich schon immer für launisch, verräterisch und schwach gehalten, doch jetzt erheben sie auch gegeneinander die schlimmsten Vorwürfe. Das eigene Geschlecht beurteilen sie nach strengeren Maßstäben, erwarten mehr von ihresgleichen -Treue, Verständnis, Glaubwürdigkeit und Liebe -, nur haben sie plötzlich offenbar alle gemeinsam entschieden, dass diese Erwartungen enttäuscht worden sind.» Mit höhnischem Unterton fügte Abul Fazl noch hinzu, dass des Herrschers Glaube an die Harmlosigkeit von Geschichten immer stärker ins Wanken gerate. Alle drei, die beiden Höflinge und der Herrscher, wussten, dass die Männer diesen Krieg der Frauen nicht beenden konnten. Also wurden die Königinmutter Hamida Bano und die alte Prinzessin Gulbadan zum Palast der Träume gebeten. Bei ihrer Ankunft stießen und schubsten sie sich, und jede der alten Damen klagte lauthals über die gehässige Tücke der anderen, was offensichtlich machte, wie sehr die Krise bereits außer Kontrolle geraten war.

Haus Skanda war einer der wenigen Orte in Sikri, der gegen dieses Phänomen immun geblieben war, weshalb Matratze und Skelett schließlich den Hügel hinanstiegen und eine Audienz beim Herrscher begehrten, kannten sie doch die Lösung des Problems. Selbsterhaltung war die mächtige Triebfeder für diese unerhörte Tat. «Wir müssen handeln», hatte Skelett Mogor nachts im Bett ins Ohr geflüstert, «sonst dauert es keine fünf Minuten mehr, bis jemand behauptet, die ganze Aufregung sei Euer Verschulden, und dann sind wir erledigt.» Den Herrscher amüsierte der Wagemut der Huren, doch war er zugleich so besorgt, dass er ihrer Bitte nach einer Audienz nachkam und sie zu sich an den Rand des Besten aller Möglichen Becken kommen ließ. Er ruhte auf einem takht-Bett mitten auf dem Wasser in kissenweicher Behaglichkeit und bat die Kurtisanen, gleich zur Sache zu kommen. jahanpanah, Schirmherr der Welt», sagte das Skelett, «Ihr müsst allen Frauen Sikris befehlen, die Kleider abzulegen.» Der Herrscher fuhr auf. Das wurde interessant. «Alle Kleider?», fragte er, nur um sich zu vergewissern, dass er sie auch richtig verstanden hatte. «Jedes Fitzelchen», sagte die Matratze mit tödlichem Ernst. «Unterwäsche, Socken, sogar die Bänder im Haar. Lasst sie für einen Tag splitternackt durch die Stadt laufen, und mit diesem ganzen Unsinn ist es im Handumdrehen vorbei.»

«Der Ärger hat sich nur deshalb nicht auf das Bordell ausgedehnt», erklärte das Skelett, «weil wir Damen der Nacht keine Geheimnisse voreinander haben. Wir waschen uns gegenseitig die Geschlechtsteile und wissen genau, welche Hure die Syph hat und welche sauber ist. Wenn die Frauen der Stadt einander nackt in den Straßen sehen, nackt in der Küche, nackt im Basar, nackt überall, aus jedem Blickwinkel, wenn all ihre Makel und geheimen Haarigkeiten erkennbar sind, müssen sie über sich selbst lachen und werden begreifen, wie närrisch die Annahme war, diese merkwürdigen, komischen Figuren könnten ihre Widersacherinnen sein.,,

«Was nun die Männer betrifft», ergänzte Mohini, das

Skelett, «müsst Ihr ihnen befehlen, sich die Augen zu verbinden, und Ihr müsst es ihnen gleichtun. Einen Tag lang darf kein Mann in Sikri eine Frau anschauen, während die Frauen, die sich gleichsam unverborgen sehen, wieder miteinander auszukommen lernen.»

«Falls Ihr glaubt, ich würde da mitmachen», sagte Hamida Bano, «hat Euch der Fremde wirklich das Hirn aufgeweicht.» Akbar schaute seiner Mutter in die Augen. «Wenn der Herrscher etwas befiehlt», sagte er, «ist der Tod die Strafe für Ungehorsam.»

Der Himmel zeigte sich gnädig am Tag der nackten Frauen. Die Sonne blieb immerzu hinter Wolken verborgen, und es wehte ein kühler Wind. An diesem Tag ließen die Männer von Sikri ihre Arbeit ruhen, kein Geschäft wurde geöffnet, niemand ging aufs Feld, die Türen der Künstlerateliers und Werkstätten waren geschlossen. Edelleute blieben im Bett, Musiker wie Höflinge wandten das Gesicht zur Wand. Und in der Abwesenheit der Männer lernten die Frauen der Hauptstadt aufs Neue, dass sie nicht aus Lügen und Verrat, sondern bloß aus Haar, Haut und Fleisch bestanden, dass sie alle gleichermaßen unvollkommen waren und nichts Besonderes voreinander verbargen, keine Gifte und Intrigen, ja, dass letzten Endes sogar Schwestern eine Möglichkeit finden konnten, sich miteinander zu vertragen. Als die Sonne unterging, zogen die Frauen sich wieder an; die Männer nahmen ihre Augenbinde ab, und ein Mahl ähnlich den Speisen am Ende der Fastenzeit wurde aufgetischt, ein Abendbrot aus Wasser und Früchten. Von jenem Tage an war das Haus von Skelett und Matratze das einzige Nachtetablissement, das des Herrschers Siegel der Anerkennung trug, und die Hausdamen selbst wurden zu Akbars Ehrenratgeberinnen ernannt. Es gab nur zwei schlechte Neuigkeiten; die erste betraf den Kronprinzen Salim. Beim Zechen am Abend prahlte er vor allen, die ihm zuhören wollten, er habe die Anweisung seines Vaters missachtet, die Augenbinde abgenommen und stundenlang die nackte Frauenschar angestiert. Kaum erfuhr Akbar davon, befahl er, seinen Sohn zu verhaften. Abul Fazl schlug für des Prinzen Vergehen die angemessenste Strafe vor. Am nächsten Morgen wurde Salim auf einem großen Platz vor dem Harem nackt ausgezogen und von den Haremswachen verprügelt, sowohl von Eunuchen als auch von Frauen mit Ringerinnenfigur. Sie schlugen ihn mit Stöcken und bewarfen ihn mit kleinen Steinen und mit Erdklumpen, bis er um Gnade und Vergebung winselte. So blieb es nicht aus, dass sich der trunksüchtige, opiumverwirrte Prinz eines Tages an Abul Fazl und auch dem Herrscher von Hindustan rächen wollte.
Ein zweites, trauriges Ergebnis des Tages der Nackten war, dass sich die alte Prinzessin Gulbadan eine Erkältung zuzog, und von da an ging es rasch mit ihr bergab. Kurz vor ihrem Ende bat sie den Herrscher zu sich und versuchte, den Ruf der verstorbenen Khanzada Begum zu retten. «Als Euer Vater aus den langen Jahren des persischen Exils heimkehrte und Euch endlich wiedersah», sagte sie, «war es Khanzada Begum, die sich um Euch kümmerte, denn Hamida Bano war natürlich nicht da. Vergesst nie, wie sehr Khanzada Euch geliebt hat. Sie hat Eure Hände und Füße geküsst und gesagt, sie erinnerten sie an die Hände und Füße Eures Großvaters. Was immer also mit Qara Köz gewesen sein mag, vergesst nicht, was Khanzada für Euch getan hat. Eine schlechte Schwester kann eine liebevolle Großtante sein.» Gulbadan hatte sich stets bemüht, Klarheit in die Vergangenheit zu bringen, doch jetzt begann sie, verwirrt zu werden, und sprach Akbar manchmal mit «Humayun» an, dem Namen seines Vaters, manchmal sogar mit dem seines Großvaters. Es war, als versammelten sich in Gestalt Akbars alle drei Mogulherrscher an ihrem Bett, um Wache zu halten, wenn ihre Seele diese Welt verließ. Nach Gulbadans Tod packte Hamida Bano schreckliche Reue. «Ich habe sie geschubst», sagte sie. «Habe sie so gestoßen, dass sie beinahe hingefallen wäre, dabei war sie von uns beiden die Ältere. Ich habe sie nicht geehrt, und jetzt lebt sie nicht mehr.»
Akbar tröstete seine Mutter. «Sie weiß, wie sehr Ihr sie geliebt habt», sagte er. «Sie wusste, dass eine Frau eine schlechte Schubserin, aber eine gute Freundin sein kann.»
Doch die Königinmutter blieb untröstlich. «Sie hat immer so jung gewirkt», sagte sie. «Dem Engel ist ein Fehler unterlaufen. Ich bin diejenige, die nur darauf wartet, sterben zu können.»
Sobald die vierzig Tage der Trauer für Gulbadan vorüber waren, rief der Herrscher den Fremdling zum Palast der Träume. «Ihr braucht zu lange», sagte er zu Mogor dell’Amore. «Ihr könnt das nicht ewig hinziehen, wisst Ihr. Höchste Zeit, dass der Bericht zum Ende kommt. Erzählt einfach die ganze verdammte Geschichte, so schnell Ihr könnt - und bitte, bringt nicht wieder die ganze Frauenwelt gegen Euch auf.»
«Schirmherr der Welt», erwiderte Mogor mit einer tiefen Verbeugung, «nichts täte ich lieber, als meine ganze Geschichte zu erzählen, denn nach nichts verlangt den Menschen mehr als eben danach. Doch um Dame Schwarzauge in die Arme von Argalia, dem Türken, zu führen, muss ich erst gewisse militärische Entwicklungen bei den mächtigsten Machthabern zwischen dem Land Italien und jenem von Hindustan erklären, womit natürlich Wurmholz Khan, der Kriegsherr der Usbeken, Schah Ishmael oder Ismail, der Safawidenkönig Persiens und der Sultan des Osmanischen Reiches gemeint sind.» «Ach, verflucht seien alle Geschichtenerzähler», rief Akbar verärgert und nahm einen kräftigen Schluck aus dem rotgoldenen Pokal. «Und die Pest über Eure Kinder.»

15. Die alten Kartoffelhexen am Kaspischen Meer …

Die alten Kartoffelhexen am Kaspischen Meer setzten sich hin und weinten. Laut schluchzten sie und stießen wilde Klagelaute aus. Ganz Transoxanien trauerte, denn der große Shaibani Khan, der mächtige Lord Wurmholz, Herrscher über das wilde Chorasan, Herr über Samarkand, Herat und Buchara, Spross jenes einzigen wahren Stammes, dem Dschingis Khan entsprang, Überwinder von Babar, dem Emporkömmling unter den Moguln … «Es ist vielleicht keine so gute Idee», sagte der Herrscher leise, «in unserer Gegenwart die Prahlereien dieses Schurken über meinen Großvater zu wiederholen. » … Shaibani, der Verächtliche, der primitive Gauner, gefallen in der Schlacht von Marv, erschlagen von Persiens Schah Ismail, der seinen Schädel in Gold fassen ließ, um einen Pokal daraus zu machen, und Gliedmaßen des besiegten Feindes in alle Welt versandte, um seinen Tod zu beweisen. So endete der erfahrene, aber auch entsetzliche, ungebildete und barbarische Krieger von gut sechzig Jahren: angemessen und zugleich beschämend, enthauptet und zerstückelt von einem noch unreifen, kaum vierundzwanzigjährigen Jüngelchen.
«So ist es viel besser», sagte der Herrscher und ließ den Blick zufrieden auf seinem eigenen Pokal ruhen. «Denn man kann niemanden einen fähigen Regenten nennen, der die eigenen Untertanen tötet, Freunde betrügt, keinen Glauben kennt, keine Gnade, keine Religion; so mag man Macht erringen, doch gewiss keinen Ruhm.» «Niccolij Machiavelli von Florenz hätte es nicht schöner formulieren können», pflichtete ihm der Geschichtenerzähler bei.
In Astrachan an den Ufern der Atil, später Wolga genannt, wurde die Kartoffelhexerei geboren, zur Welt gebracht von der apokryphen Hexenmutter Olga der Ersten, doch waren ihre Anhänger längst zerstritten, wie auch die Welt zerstritten war, weshalb an der Westküste des Kaspischen Meeres, die man die chasarische nannte, unweit von Ardabil, wo Schah Ismails Safawidendynastie im Mystizismus der Sufis wurzelte, die Hexen nun zu den Schiiten gehörten und sich an den Triumphen des neuen Zwölferschiitenreiches Persiens erfreuten, während jene, die bei den Usbeken an der Ostküste lebten, die wenigen armen, fehlgeleiteten Kreaturen, auf seiten von Wurmholz Khan standen. Später dann, als Schah Ismail durch die osmanische Armee eine Niederlage hin-nehmen musste, behaupteten diese sunnitischen Kartoffelhexen des östlichen Chasarenmeeres, ihre Flüche seien stärker gewesen als die Magie ihrer schiitischen Schwestern im Westen. Denn die chorasanische Kartoffel ist allmächtig, riefen sie viele Male die Worte ihres heiligsten Glaubensbekenntnisses, durch sie ist alles möglich.
Bei richtiger Anwendung sunnitisch-usbekischer Kartoffelflüche ließ sich ein passender Gatte finden, eine hübschere Rivalin vertreiben oder der Sturz eines Schiitenherrschers herbeiführen. Schah Ismail war das Opfer des selten ausgeführten Großenubekischen-Anti-Schiiten- Kartoffel-und -Störfisch -Zaubers, für den Kartoffeln und Kaviar in rauen Mengen nötig waren, die sich nur schwerlich auftreiben ließen, der aber auch ein einhelliges Vorgehen aller Sunni-Hexen voraussetzte, das nicht weniger schwer erlangt werden konnte. Als die östlichen Kartoffelhexen schließlich die Nachricht von Ismails vernichtender Niederlage vernahmen, wischten sie sich die Tränen aus den Augen, hörten zu jammern auf und tanzten. Eine Pirouetten drehende chorasanische Hexe ist ein wahrhaft seltener Anblick, und nur wenige, die diesen Tanz zu Gesicht bekamen, sollten ihn je wieder vergessen. Außerdem riss der Kaviar-und-Kartoffel-Fluch eine Kluft in die Schwesternschaft der Kartoffelhexen, die sich bis heute nicht wieder geschlossen hat.

Allerdings mag es noch den ein oder anderen prosaischeren Grund für den Ausgang der Schlacht von Chaldiran gegeben haben, etwa jenen, dass die osmanische Armee der persischen zahlenmäßig weit überlegen war oder dass die Osmanen Ge-wehre trugen, Waffen also, die in den Augen der Perser nichts für echte Männer waren, weshalb sie sich weigerten, sie zu tragen, und folglich in großer Zahl einen zweifellos höchst männlichen Tod starben, oder auch jenen Grund, dass der Anführer der osmanischen Streitkräfte ein unbesiegbarer Janitscharengeneral war, der Schlächter von Vlad, der Pfähler, der Drachendämon der Walachei, Argalia nämlich, der florentinische Türke. Für wie groß Schah Ismail sich auch hielt - und niemand konnte ihm in seiner hohen Meinung von sich selbst das Wasser reichen -, vermochte er dem Träger der Verwunschenen Lanze doch nicht lange standzuhalten.

Schah Ismail von Persien, dem selbsternannten Stellvertreter des Zwölften Imams auf Erden, sagte man nach, dass er arrogant sei, egoistisch und ein fanatischer Konvertit des Ithna Ashari, also des Zwölferschiitentums. «Ich breche die Poloschläger meiner Gegner», prahlte er mit den Worten des Sufi-Heiligen Shaykh Zahid, «und dann gehört mir das Feld.» Gleich darauf erhob er mit eigenen Worten einen noch weit größeren Anspruch. «Ich bin der wahre Gott aus wahrem Gott! Kommt, 0 ihr Blindäugigen, die ihr den rechten Pfad verloren habt, vernehmt die Wahrheit! Ich bin der Absolute Vollbringer, von dem die Menschheit spricht.» Man nannte ihn Vali Allah, den Vikar Gottes, und für seine «rothaarigen» Kizilbasch-Soldaten war er tatsächlich ein Gott. Bescheidenheit, Großzügigkeit, Freundlichkeit: Diese Tugenden gehörten nicht gerade zu seinen Charaktereigenschaften. Doch als er das Schlachtfeld von Marv in südlicher Richtung verließ, im Gepäck ein Honigglas mit dem Kopf von Shaibani Khan, um im Triumph in Herat einzuziehen, wurde er mit ebendiesen Worten von jener Prinzessin beschrieben, die die Geschichte vergessen hatte, von Dame Schwarzauge, von Qara Köz. Schah Ismail war ihr erster Schwarm. Sie war siebzehn Jahre alt.
«Also stimmt es doch», rief der Herrscher. «Der Fremde, um dessentwillen sie sich weigerte, mit Khanzada an den Hof meines Großvaters zurückzukehren, der Grund also, warum sie mein edler Ahn aus den Annalen der Geschichte getilgt hatte - der Verführer, von dem unsere geliebte Tante Gulbadan sprach -, es war nicht Euer Arcalia oder Argalia, sondern der Schah von Persien höchstpersönlich.»
«Sie beide waren Kapitel in ihrer Geschichte, 0 Schirmherr der Welt», erwiderte der Geschichtenerzähler. «Eines nach dem anderen, erst der Sieger, dann des Siegers Bezwinger. Frauen sind nicht vollkommen, das wird man zugeben müssen, und wie es schein~ hatte die junge Dame eine Schwäche für Gewinner.»
Herat, die Perle von Chorasan, Heimstatt des Künstlers Behzad, des Malers unvergleichlicher Miniaturen, sowie des Dichters Jami, des unsterblichen Philosophen der Liebe und letzter Ruheplatz der Patronin der Schönheit, der großen Königin Gauhar Shad, was so viel bedeutet wie Glückliches oder Leuchtendes Juwel. «Ihr alle gehört jetzt Persien», rief Schah Ismaillaut, als er durch die eroberten Straßen ritt. «Eure Geschichte, die Oasen, Bäder, Brücken, Kanäle und Minarette gehören jetzt alle mir.» Zwei gefangene Prinzessinnen aus dem Herrscherhaus der Moguln beobachteten ihn von einem hohen Palastfenster aus. «Heute werden wir sterben oder die Freiheit gewinnen», sagte Khanzada und unterdrückte dabei ein Zittern in der Stimme. Shaibani Khan hatte sie zu seiner Frau gemacht, und sie hatte ihm einen Sohn geboren. Ihr fiel das versiegelte Gefäß auf, das gleich hinter dem Pferd des Eroberers an einem gewöhnlichen Speer hing, und sie wusste, was sich darin befand. «Wenn der Vater tot ist», sagte sie, «ist auch das Schicksal meines Sohnes besiegelt.» Ihre Analyse war korrekt, und als Schah Ismail an die Tür der Prinzessin klopfte, hatte man den Jungen bereits zu seinem Vater gesandt. Der persische König verbeugte sich tief vor Prinzessin Khanzada. «Ihr seid die Schwester eines großen Bruders», sagte er, «also lasse ich Euch frei. Ich gedenke, Euch mit vielen Geschenken der Freundschaft zu König Babar zurückzusenden, der sich zurzeit in Kundus aufhält; und Ihr, meine Damen, werdet das größte aller Geschenke sein.»

«Bis gerade eben», erwiderte Khanzada, «war ich nicht bloß Schwester, sondern auch Mutter und Eheweib. Da Ihr mir zwei Drittel meiner selbst genommen habt, könnt Ihr den Rest auch heimkehren lassen.» Nach neun Jahren als Wurmholz Khans Königin und acht Jahren als Mutter eines Prinzen wurde ihr das Herz in Stücke gerissen. Doch nicht einen Moment lang ließ sie zu, dass Herz oder Stimme ihre wahren Gefühle verrieten, weshalb Schah Ismail sie kalt und gefühllos fand. Angeblich war Khanzada mit neunundzwanzig noch eine große Schönheit, und der Perser fühlte sich sehr versucht, hinter ihren Schleier zu schauen, doch zügelte er seine Begierde und wandte sich stattdessen an das jüngere Mädchen. «Und Ihr, Gnädigste», sagte er mit aller Höflichkeit, die er aufzubringen vermochte, «was habt Ihr Eurem Befreier zu sagen?»

Khanzada Begum nahm ihre Schwester am Arm, als wollte sie mit ihr fortgehen. «Danke, aber meine Schwester und ich sind einer Meinung», sagte sie; Qara Köz schüttelte jedoch ihre Hand ab, riss den Schleier fort und schaute dem jungen König direkt ins Gesicht.
«Ich möchte lieber bleiben», sagte sie.
Es gibt eine Schwäche, die Männer am Ende einer Schlacht überfallt, die sie spüren lässt, wie leicht Leben vernichtet wird, weshalb sie es wie eine Kristallschale an die Brust drücken und seine Kostbarkeit ihnen allen Mut nimmt. In solchen Momenten ist jeder Mann ein Feigling, der an nichts anderes denken kann als an die Umarmung einer Frau, an nichts anderes als die heilenden Worte, die allein eine Frau zu flüstern vermag, an das Vergnügen, sich in den fatalen Labyrinthen der Liebe zu verlieren. Im Banne dieser Schwäche kann ein Mann tun, was seine besten Pläne durchkreuzt; er kann Versprechen geben, die seine Zukunft ändern. Und so geschah es, dass Schah Ismail von Persien in den schwarzen Augen einer siebzehnjährigen Prinzessin ertrank.
«Dann bleibt», sagte er.
«Der Drang nach einer Frau, die uns von der Einsamkeit nach dem Morden befreit», sagte der Herrscher erinnerungsschwer, «die das schlechte Gewissen nach dem Sieg lindert Dünkel nach der Niederlage, das Zittern in den Knochen. Die uns in ihren Armen hält; wenn wir spüren, wie der Hass verebbt und einer höheren Form von Verlegenheit weicht. Die uns mit Lavendelduft netz; um den Blutgeruch an unseren Fingerspitzen zu überdecken, den Schlachtgestank unseres Bartes. Der Drang nach einer Frau, die uns sagt, dass wir ihr allein gehören, und die unsere Gedanken vom Tod ablenkt. Die jene Neugierde darauf dämpft, wie es vor dem Stuhl des Jüngsten Gerichtes wohl sein mag, die uns den Neid auf jene nimm; die vor uns dahingegangen sind, um dem Allmächtigen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, und die alle Zweifel beschwichtigt, die uns den Magen umdrehen, Zweifel an einem Leben nach dem Tod oder gar an Gott selbst~ wirkt doch der Geschlagene so vollkommen to~ und kein höherer Sinn scheint in Sicht.»
Später, als er sie bereits auf immer verloren hatte, redete Schah Ismail von Hexerei. Es habe ein Zauber in ihrem Blick gelegen, der nicht ganz menschlich gewesen sei, sagte er; eine Teufelin habe in ihr gesteckt und ihn in seinen Untergang geführt. «Dass eine derart schöne Frau keine Zärtlichkeit kennt», sagte er zu seinem taubstummen Leibdiener, «hatte ich nicht erwartet. Ich hatte auch nicht erwartet, dass sie sich so beiläufig von mir abkehrt, beinahe so, als wechselte sie bloß die Schuhe. Ich hatte erwartet, der Geliebte zu sein, nicht aber, majnun-Layla zu sein, liebestoll. Und ich hatte nicht erwartet, dass sie mir das Herz bricht.»

Als Khanzada Begum ohne ihre Schwester zu Babar nach Kundus kam, wurde ihre Ankunft mit großen Paraden und vielen Tänzen gefeiert, mit Trompetenschall und Gesängen; Babar selbst kam ihr gar zu Fuß entgegen, als sie der Sänfte entstieg. Doch insgeheim kochte er vor Wut, und es geschah in jener Zeit, dass er befahl, Qara Köz aus den Annalen der Geschichte zu tilgen. Eine Weile ließ er Schah Ismail noch in dem Glauben, dass sie beide Freunde seien. Zum Beweis prägte er Münzen mit Ismails Antlitz, und Ismail entsandte Truppen, mit deren Hilfe er die Usbeken aus Samarkand vertrieb. Dann aber konnte er Ismail plötzlich nicht länger ertragen, und er befahl ihm, seine Truppen zu nehmen und nach Hause zu verschwinden.
«Das ist interessant», sagte der Herrscher. «Der Entschluss unseres Großvaters, die Safawidenarmee nach der Rückeroberung Samarkands heimzuschicken, ist uns nämlich stets ein Rätsel geblieben. Damals hatte er übrigens auch aufgehört an seinem Lebensbuch zu schreiben, das er erst elf Jahre später wieder zur Hand nehmen sollte, weshalb ihm persönlich zu dieser Angelegenheit nichts überliefert ist. Kaum waren die Perser abgezogen, verlor er Samarkand wieder und musste nach Osten fliehen. Wir hatten stets geglaubt, er habe persische Hilfe abgelehnt weil ihm Schah Ismails religiöser Bombast zuwider war: die endlosen Proklamationen seiner eigenen Göttlichkeit die Zwölferschiiten-Verherrlichung. Wenn der wahre Grund aber Babars schwelender Ärger über die verschwiegene Prinzessin war; zog ihre Entscheidung wahrlich viele große Entwicklungen nach sich! Denn nur weil er Samarkand verließ, kam Babar nach Hindustan und errichtete hier seine Dynastie, und wir selbst sind der dritte Herrscher in seiner Nachfolge. Wenn die Geschichte also stimm~ dann lässt sich der Beginn unseres Reiches unmittelbar auf den Eigensinn von Qara Köz zurückführen. Sollten wir sie nun verdammen oder sie loben? War sie eine Verräterin, die auf immer verachtet gehört? Oder unsere genetrix, unsere Gebärerin, die unsere Zukunft formte?
«Sie war ein schönes, eigensinniges Mädchen», erwiderte Mogor dell’Amore, «und ihre Macht über Männer derart groß dass sie selbst anfänglich wohl nicht wusste, wie groß ihr Zauber tatsächlich war.»
Qara Köz: Man stelle sie sich in Täbris vor, der Hauptstadt der Safawiden, umschmeichelt von den feinsten Teppichen des Schahs, darauf hingestreckt wie Kleopatra auf Cäsars Persern. In Täbris waren sogar die Berge mit Geknüpftem ausgelegt, da auf ihren Flanken die Teppiche zum Trocknen ausgebreitet wurden. In den königlichen Gemächern wälzte sich Dame Schwarzauge auf Perserteppichen, als wären sie die Leiber ihrer Geliebten. Und immer stand in einer Ecke ein dampfender Samowar. Gierig schlang sie mit Pflaumen und Knoblauch gefülltes Huhn in sich hinein, aß Garnelen mit Tamarindenpaste oder Kebab mit Duftreis, doch blieb sie rank und schlank. Mit Spiegel, ihrer Leibdienerin, spielte sie Backgammon und wurde zur besten Spielerin am persischen Hof, allerdings vergnügte sie sich mit Spiegel auch noch bei anderen Spielen, kicherten und glucksten die beiden Mädchen doch hinter den verschlossenen Türen ihres Schlafgemachs, weshalb nicht wenige Höflinge sie für ein Liebespaar hielten, auch wenn kein Mensch, weder Frau noch Mann, dergleichen laut zu sagen wagte, da ein solches Gerücht den Kopf gekostet hätte. Wenn Qara Köz dem jungen König beim Polo zusah, stieß sie Seufzer erotischer Ekstase aus, sooft er seinen Schläger schwang, und das Volk begann zu glauben, ihr Stöhnen und juchzen verzaubere den Ball, der unweigerlich ins Tor traf, während die Schläger der Verteidiger harmlos durch die Luft schnitten. Sie badete in Milch. Sie sang wie ein Engel. Sie las keine Bücher. Sie war einundzwanzig Jahre alt und wurde nicht schwanger. Eines Tages, als Ismail davon sprach, dass sein Gegner im Westen, der Osmanensultan Bayezid H., immer mächtiger werde, murmelte sie ihm tödlichen Rat ins Ohr. «Schickt ihm einfach Euren Pokal», sagte sie, «jenen, der aus dem Schädel von Shaibani Khan gefertigt wurde, gleichsam zur Warnung, damit er weiß, was ihm blüht, wenn er vergisst, welcher Platz ihm gebührt.»
Sie fand seine Eitelkeit verführerisch und war in seine Schwächen verliebt. Ein Mann, der sich für einen Gott hielt, schien ihr genau der richtige Mann zu sein. Gut möglich, dass ihr ein König nicht genügte. «Wahrhaftiger Gott!», rief sie, wenn er sie nahm. «Mein absoluter Vollbringer!» Das gefiel ihm natürlich, und da er für Lob anfällig war, bedachte er nie die Autonomie großer Schönheit, die keinem Menschen gehört, die nur sich selbst gehört und dahin treibt, wohin der Wind sie weht. Obwohl Qara Köz alles für ihn aufgegeben hatte und ihre Welt mit einem einzigen Blick veränderte, ihre Schwester, ihren Bruder und ihre übrige Familie verließ, um in Gesellschaft eines hübschen Fremden gen Westen zu reisen, hielt Schah Ismail in seiner ungeheuren Selbstverliebtheit solch radikalen Entschluss für ganz natürlich, tat sie es doch um seinetwillen. Folglich konnte er das Wandernde in ihr nicht sehen, das Entwurzelte. Löst sich aber eine Frau so leichthin aus allen Zusammenhängen, kann sie derlei jederzeit wieder tun.
Es gab Tage, da wollte sie Bosheit: seine und ihre. Im Bett flüsterte sie, sie habe eine böse Seite, ein böses Ich, und wenn diese Seite die Oberhand gewinne, sei sie für ihre Handlungen nicht länger verantwortlich, dann könne sie alles tun, einfach alles. Das erregte ihn aufs äußerste. In der Liebe war sie ihm mehr als ebenbürtig, da war sie seine Königin. Nach vier Jahren hatte sie ihm noch keinen Sohn geboren. Egal. Sie war ein Fest für die Sinne, eine Frau, für die Männer töteten. Er lechzte nach ihr und war zugleich ihr Lehrer. «Ihr wollt also, dass ich Bayezid den ShaibaniPokal schicke?», raunte er mit belegter Stimme wie im Rausch. «Dass ich ihm den Schädel eines anderen Mannes schicke?»
«Trinkt Ihr aus dem Schädel Eures Feindes, ist das für Euch ein großer Triumph», wisperte sie, «trinkt aber Bayezid aus dem Schädel Eures besiegten Gegners, wird Furcht sein Herz erfüllen.» Da begriff er, dass sie den Becher mit einem Angstzauber belegt hatte. «Also schön», sagte er. «Wir werden tun, was Ihr empfehlt.»

Der fünfundvierzigste Geburtstag Argalias war gekommen und vergangen. Er war ein großgewachsener, blassgesichtiger Mann, dessen Haut trotz der vielen Kriegsjahre noch weiß wie die eines Weibes schimmerte, Frauen wie Männer staunten, wie weich sie war. Er liebte Tulpen und ließ sie sich auf seine Tuniken und Mäntel sticken, da er die Blumen für Glücksbringer hielt, und von den fünfzehnhundert verschiedenen Tulpensorten Konstantinopels füllten vor allem sechs seine Palastgemächer: Paradieslicht, Unvergleichliche Perle, Lustmehrerin, Passionsstillerin, Diamantenneid und Rose der Morgenröte. Sie waren seine Lieblingsblumen, und sie verrieten, welch sinnlicher Mensch im Kriegerpanzer steckte, ein in der Haut eines Mörders verborgenes Lustgeschöpf, Weibliches im Männlichen. Zudem besaß er die Vorliebe einer Frau für äußere Pracht: Trug er keine Rüstung, behängte er sich mit Seide und Juwelen; außerdem hegte er eine große Schwäche für exotische Pelze, für den schwarzen Fuchs und Luchs aus dem Moskowiterland, die über Theodosia auf der Krim geliefert wurden. Sein Haar war lang und schwarz wie das Böse, die Lippen voll und so rot wie Blut.

Um Blut und Blutvergießen drehte sich sein Leben. Bei mindestens einem Dutzend Feldzügen hatte er Sultan Mehmed 11. gedient und jede Schlacht gewonnen, in der er seine Arkebuse in Anschlag brachte, sein Schwert aus der Scheide zog. Wie einen Schild hatte er einen Zug Janitscharen um sich geschart, darunter als seine Leutnants die Schweizer Riesen Otho, Botho, Clotho und d’ Artagnan, und obwohl am osmanischen Hof eine Intrige die andere jagte, hatte er sieben Attentate unbeschadet überstanden. Nach Mehmeds Tod geriet das Reich an den Rand eines Bürgerkriegs zwischen den beiden Söhnen Bayezid und Cem. Als Argalia erfuhr, dass sich der Großwesir entgegen aller muslimischen Tradition drei Tage lang weigerte, den Leichnam des verstorbenen Sultans zu beerdigen, damit Cem nach Stambul gelangen und den Thron an sich reißen konnte, eilte er mit den Schweizer Riesen zu den Gemächern des Wesirs und brachte ihn um. Dann führte er Bayezids Armee gegen den Möchtegern-Usurpator und trieb ihn ins Exil. Bald darauf wurde er zum Oberbefehlshaber des neuen Sultans ernannt. Er focht gegen die Mamelucken Ägyptens zu Lande und zu Wasser, und als er die Allianz aus Venedig, Ungarn und dem Vatikan bezwang, kam sein Ruf als Admiral nur noch seinem Ruhm als Krieger zu Lande gleich.

Danach bereiteten ihm die Kizilbasch aus Anatolien die größten Probleme. Sie trugen rote Kopfbedeckungen mit zwölf Zwickeln, um ihre Vorliebe für die Zwölferschiiten kundzutun, weshalb sie schließlich auch von Schah Ismail von Persien angegriffen wurden, dem selbsternannten Wahrhaftigen Gott. Bayezids dritter Sohn, Selim der Grimmige, wollte sie restlos vernichten, aber sein Vater war zurückhaltender. Daraufhin begann Selim der Grimmige seinen Vater für einen Schwächling und Zauderer zu halten. Als der Pokal von Schah Ismail aus Stambul eintraf, fasste Selim ihn als tödliche Beleidigung auf. «Diesem Ungläubigen, der sich selbst Gott nennt, werden wir Manieren beibringen», verkündete er und nahm das Gefäß entgegen, wie ein Duellant einen Handschuh annimmt, mit dem ihm ins Gesicht geschlagen wurde. «Aus diesem Pokal trinke ich das Blut des Safawiden», versprach er seinem Vater. Argalia, der Türke, trat vor: «Und ich werde ihm den Trank einschenken», sagte er. Als Bayezid diesem Krieg die Genehmigung verweigerte, änderte sich die Lage für Argalia. Nur wenige Tage später schloss er sich mit seinen Janitscharen Selim dem Grimmigen an, und Bayezid wurde vom Thron gejagt. Man versetzte den alten Sultan in den vorzeitigen Ruhestand und schickte ihn zurück nach Didymoticho in Thrakien, seinem Geburtsort, doch starb er unterwegs zum Glück an gebrochenem Herzen, denn für Männer, die die Nerven verloren haben, hat die Welt keinen Platz. Mit Argalia an der Seite spürte Selim seine Brüder Ahmed, Korkud und Shahinshah auf und tötete sie ebenso wie all deren Söhne. So war die Ordnung wiederhergestellt und die Gefahr eines Staatsstreichs gebannt. (Als Argalia viele Jahre später Il Machia von diesen Taten erzählte, rechtfertigte er sich mit den Worten: «Wenn ein Fürst die Macht an sich reißt, sollte er die schlimmsten Ta-ten gleich zu Beginn begehen, denn seinen Untertanen wird danach jedes weitere Vorgehen wie eine Besserung vorkommen.»

Als Il Machia dies hörte, schwieg er eine Weile nachdenklich und nickte dann versonnen. «Schrecklich», antwortete er Argalia, «aber wahr.», Dann wurde es Zeit, gegen Schah Ismail vorzugehen. Argalia und seine Janitscharen wurden nach Rum in Nordanatolien gesandt, um Tausende Kizilbaschs zu verhaften und noch weit mehr niederzumetzeln, auf dass die Bastarde Ruhe gaben, wenn die Armee durch ihr Land zog, um Schah Ismail den Brief Selims des Grimmigen zu überbringen. In seiner Botschaft hatte Selim geschrieben: «Ihr haltet Euch nicht länger an die Gebote und Verbote göttlicher Gesetze. Ihr habt Eure abscheuliche Schiitengemeinde zu unduldbaren sexuellen Ungeheuerlichkeiten aufgehetzt und unschuldiges Blut vergossen.» Einhunderttausend Soldaten der Osmanen schlugen ihr Lager in Ostanatolien am Van-See auf, um Schah Ismail diese Worte in seinen blasphemischen Rachen zu stopfen. Zu ihnen gehörten zwölftausend Arkebusiere der Janitscharen unter Argalias Kommando. Außerdem hatten sie fünfhundert miteinander verkettete Kanonen dabei, eine schier unüberwindbare Barriere.
Die persischen Truppen stellten sich ihnen bei Chaldiran am nordöstlichen Ufer des Van-Sees. Schah Ismails Armee zählte nur vierzigtausend Mann, fast ausnahmslos Reiter, doch wusste Argalia, der ihre Schlachtordnung musterte, dass eine zahlenmäßige Überlegenheit durchaus nicht immer die Schlacht entschied. Wie Vlad Dracula in der Walachei hatte Ismail die Strategie der verbrannten Erde angewandt. Anatolien war verkohlt und leer geräumt; die über Sivas nach Arzinjan vorrückende Armee der Osmanen fand nur wenig zu essen und zu trinken. Selims Soldaten waren folglich müde und hungrig, als sie nach langem Marsch am See rasteten, und eine solche Armee ist immer besiegbar. Als Argalia sich mit der verschwiegenen Prinzessin später über diesen Tag unterhielt, erklärte sie ihm, warum ihr früherer Geliebter bezwungen worden war.

«Ritterlichkeit», sagte sie. «Trottelige Ritterlichkeit - und weil er auf einen dummen Neffen statt auf mich gehört hat.»
Unwahrscheinlich, wie es klingen mag, ist es doch wahr, dass die Zauberin Persiens mit Spiegel, ihrer Sklavin, auf dem Feldherrnhügel über dem Schlachtfeld zugegen war; eine Brise wehte ihr den dünnen Gewandschleier ins Gesicht und derart aufreizend gegen die Brüste, dass ihre Schönheit, so wie sie dort vor des Königs Zelt stand, alle Gedanken der Soldaten an Krieg verdrängte. «Er muss verrückt gewesen sein, als er Euch herbrachte}}, sagte ein blutverdreckter und des Schlachtens müder Argalia, sobald er sie am Ende eines totenreichen Tages fand. «Ja», erwiderte sie in sachlichem Ton. «Ich habe ihn verrückt vor Liebe gemacht.}}
Was allerdings strategische Fragen betraf, konnten all ihre Zauberkünste nicht bewirken, dass er ihr Gehör schenkte. «Seht}}, rief sie, «noch arbeiten sie an ihren Verteidigungsanlagen. Greift jetzt an, solange sie nicht bereit sind.» Und: «Seht», rief sie, «sie haben fünfhundert Kanonen aneinandergekettet; dahinter stehen zwölftausend Gewehrschützen. Galoppiert nicht einfach drauflos, sonst mähen sie Euch nieder.}} Und: «Habt Ihr keine Gewehre? Ihr wisst doch, was Gewehre sind? Um Himmels willen, warum habt Ihr keine Gewehre mitgebracht?}} Worauf Durmish Khan, der Narr, der Neffe des Schahs, antwortete: «Es wäre aber nicht fair, wenn wir angriffen, solange sie noch nicht kampfbereit sind.» Und: «Es wäre auch nicht edel, wenn unsere Männer sie von hinten überfielen.» Und: «Das Gewehr ist keine Waffe für einen Mann. Das Gewehr ist für Feiglinge, die sich vor dem Nahkampf fürchten. Wie viele Gewehre sie aber auch immer haben mögen, wir werden den Kampf zu ihnen tragen, bis sie sich im Handgemenge verteidigen müssen. Heute entscheidet der Mut, nicht diese - halt - diese Arkebusen.}} Mit einem verzweifelten Lachen wandte sie sich zu Schah Ismail um. «Sagt diesem Mann, er ist ein Trottel», befahl sie ihm, doch Schah Ismail! von Persien antwortete: «Ich bin kein Karawanendieb, der sich im Schatten verkriecht. Gottes Wille wird geschehen.»
Sie weigerte sich, der Schlacht zuzusehen, und blieb im königlichen Zelt sitzen, das Gesicht vom Eingang ab gewandt. Spiegel saß neben ihr und hielt ihre Hand. Schah Ismail führte den Angriff über den rechten Flügel, der den linken der Osmanen zermalmte, doch hielt die Zauberin auch weiterhin ihr Gesicht abgewandt. Beide Armeen erlitten schreckliche Verluste. Die persische Kavallerie mähte die Blüte der osmanischen Reiterei nieder, die Illyrer, Mazedonier, Serben, Epiroten, die Thessalier und Thraker. Auf der Seite der Safawiden sank ein Befehlshaber nach dem anderen nieder, und sobald sie starben, murmelte die Zauberin im Zelt ihre Namen. Muhammad Khan Ustajlu, Husain Beg Lala Ustajlu, Sam Pira Ustajlu und so weiter. Als könnte sie sehen, ohne zu sehen. Und Spiegel warf ihre Worte zurück, sodass die Namen der Toten durch das’ königliche Zelt widerzuhallen schienen. Amir Nizam al-Din Abd al-Baqi … al-Baqi … , der Name des Schahs aber, der sich für Gott hielt, wurde nicht ausgesprochen. Die Mitte der Osmanen hielt, nur war die türkische Kavallerie kurz davor, in Panik auszubrechen, als Argalia endlich die Artillerie nach vom befahl. «Ihr Bastarde», schrie er seine eigenen Janitscharen an, «sehe ich auch nur einen davonlaufen, lasse ich die Kanonen auf euch richten.» Die Schweizer Riesen liefen bis an die Zähne bewaffnet neben der Gefechtslinie her, um Argalias Drohungen Nachdruck zu verleihen. Dann setzte der Donner der Geschütze ein. «Der Sturm beginnt», sagte die im Zelt sitzende Zauberin. «Der Sturm», wiederholte Spiegel. Es war unnötig, die persische Armee in ihrem Todeskampf zu sehen, doch wurde es Zeit, ein trauriges Lied anzustimmen. Schah Ismaillebte, der Tag aber war verloren.
Er war vom Schlachtfeld geflohen, verwundet, ohne sie zu holen. Das wusste sie. «Er ist fort», sagte sie zu Spiegel. «Ja, er ist fort», stimmte die Sklavin zu. «Wir sind der Gnade des Feindes ausgeliefert», sagte die Zauberin. «Gnade», wiederholte Spiegel.

Die vor dem Zelt postierten Wachen waren ebenfalls geflohen. Zurück blieben zwei Frauen, allein auf einem grauenhaften Blutfeld. So fand Argalia sie: Unverschleiert, den Blick vom Eingang des königlichen Zeltes ab gewandt, saßen sie allein, hoch aufgerichtet, am Ende der Schlacht von Chaldiran, und sie sangen ein trauriges Lied. Prinzessin Qara Köz wandte sich zu ihm um, ohne sich auch nur zu bemühen, ihr nacktes Antlitz vor seinen Blicken zu verbergen, und von diesem Moment an hatten sie bloß noch Augen füreinander und waren für den Rest der Welt verloren.

Er sah aus wie eine Frau, dachte sie, wie eine große, blasshäutige, schwarzhaarige Frau, die sich mit Tod vollgestopft hat. Wie weiß er war, weiß wie eine Maske. Darauf, gleich einem Blutfleck, diese roten, so roten Lippen. Ein Schwert in der Rechten, in der Linken ein Gewehr. Er war beides, Schwertkämpfer und Schütze, Mann und Frau, er selbst und sein Schatten. Sie verließ Schah Ismail, so wie er sie verlassen hatte, und wählte erneut. Diesen fahlgesichtigen Fraumann. Später würde er sie und Spiegel als Kriegsbeute beanspruchen, und Selim der Grimmige würde einverstanden sein, doch da hatte sie ihn längst gewählt, und es war ihr Wille, der in Gang setzte, was folgte.
«Habt keine Angst», sagte er auf Persisch.

«Niemand hier kennt die wahre Bedeutung von Angst», erwiderte sie, erst auf Persisch, dann noch einmal auf Tschagatai, ihrer turkmenischen Muttersprache. Und unhörbar unter diesen Worten die eigentlichen Worte:
Wollt Ihr der Meine sein? Ja, ich gehöre Euch.

Nach der Plünderung von Täbris wollte Selim bleiben, um in der Hauptstadt der Safawiden zu überwintern und das übrige Persien im Frühjahr zu erobern, doch Argalia sagte ihm, falls er darauf bestehe, würde die Armee meutern. Sie hatten gesiegt und einen Großteil von Ostanatolien und Kurdistan eingenommen, hatten die Größe des Osmanischen Reiches fast verdoppelt, jetzt war es genug. Man möge das mit der Schlacht von Chaldiran eroberte Gebiet als neues Grenzland zwischen den Osmanen und den Safawiden anerkennen. Täbris sei außerdem leer. Weder für seine Männer noch für die Pferde der Reiterei oder für die Lastkamele finde sich Nahrung. Die Armee wollte heim. Selim begriff, dass ein Ende erreicht war. Acht Tage nach dem Einmarsch der osmanischen Armee in Täbris führte Selim seine Männer aus der Stadt und schlug den Weg nach Westen ein.

Ein besiegter Gott ist kein Gott mehr. Und ein Mann, der seine Gefährtin auf dem Schlachtfeld zurücklässt, ist kein Mann mehr. Innerlich gebrochen, kehrte Schah Ismail in seine besiegte Stadt zurück und gab sich während der letzten zehn Jahre seines Lebens dem Suff und der Melancholie hin. Er trug schwarze Kleider und einen schwarzen Turban, sogar die Standarten der Safawiden wurden schwarz gefärbt. Nie wieder ritt er in eine Schlacht und schwankte unablässig zwischen hemmungslosen Ausschweifungen und tiefster Trauer, sodass jedermann seine Schwäche und das Ausmaß seiner Verzweiflung erriet. War er betrunken, rannte er durch die Räume seines Palastes und suchte sie, die nicht mehr dort war, die nie wieder zurückkehren würde. Als er starb, zählte er keine siebenunddreißig Jahre. Dreiundzwanzig Jahre lang war er der Schah von Persien gewesen, doch hatte er alles verloren, was ihm wichtig gewesen war.

Als sie Argalia entkleidete und sah, dass seine Unterwäsche mit Tulpen bestickt war, begriff sie, wie sehr er an seinem Aberglauben hing und dass er wie jeder Mann, der einer todbringenden Arbeit nachging, alles nur erdenklich Mögliche tat, um seinen letzten Tag hinauszuzögern. Als sie ihm die Unterwäsche auszog und Tulpentätowierungen auf seinen Schultern entdeckte, auf den Hinterbacken und gar auf dem dicken Penisschaft, da wusste sie mit letzter Gewissheit, dass sie die Liebe ihres Lebens gefunden hatte. «Ihr braucht diese Blumen nicht mehr», sagte sie und streichelte seine Tulpen. «Jetzt habt Ihr ja mich als Euren Glücksbringer.»
Er dachte: Ja, ich habe Euch, doch nur, bis ich Euch nicht mehr habe, nur, bis Ihr beschließt, mich ZU verlassen, so wie Ihr Eure Schwester verlassen habt, bis Ihr erneut das Pferd wechselt, wie Ihr von Schah Ismail zu mir gewechselt seid. Ein Pferd ist schließlich nur ein Pferd. Sie las seine Gedanken, und da sie spürte, dass er weitere Zusicherungen brauchte, klatschte sie in die Hände. Spiegel kam ins blumenvolle Schlafgemach. «Sag ihm, wer ich bin», befahl sie. «Sie ist die Frau, die Euch liebt», sagte Spiegel. «Mit ihrem Zauber kann sie die Schlangen aus ihren Erdlöchern locken, die Vögel aus den Bäumen, und die Tiere verlieben sich in Euch, doch nun hat sie sich selbst in Euch verliebt, weshalb Ihr alles haben könnt, was Ihr begehrt.» Als die Zauberin leicht mit der Augenbraue zuckte, ließ Spiegel ihre Kleider zu Boden fallen und schlüpfte ins Bett. «Sie ist mein Spiegel», sagte die Zauberin. «Sie ist der schimmernde Schatten. Wer mich gewinnt, bekommt auch sie.» In diesem Moment gab Argalia, der große Krieger, sich geschlagen. Angesichts einer solchen Umfassungsbewegung bleibt einem Mann nur die bedingungslose Kapitulation.
Er war es, der sie in «Angelica» umbenannte. Bezwungen vom Namen Qara Köz, seinem glottalen Schlusslaut und der ungewohnten Klangfolge, verlieh er ihr jenen seraphischen Namen, unter dem ihre neuen Welten sie kennenlernen sollten. Und sie wiederum gab diesen Namen an ihren Spiegel weiter. «Wenn ich Angelica sein muss», sagte sie, «wird mein Schutzengel auch eine Angelica sein.»

Seit vielen Jahren schon kam ihm als Günstling des Sultans die Ehre zu, in der Wohnstätte der Glückseligkeit residieren zu dürfen, im Topkapi, statt mit den spartanischen Behausungen der Janitscharen-Kasernen vorliebnehmen zu müssen. Doch erst seit seinen Gemächern der Zauber einer weiblichen Hand anzumerken war, fühlte er sich hier wahrhaft daheim. Für Männer wie Argalia ist der Glaube an ein Zuhause allerdings schon immer eine beunruhigende, gefährliche Idee gewesen. Wie in einer Schlinge konnten sie sich darin verfangen. Selim der Grimmige war nicht Bayezid und nicht Mehmed, er hielt Argalia nicht für seine unverzichtbare rechte Hand, sondern für einen möglicher-weise gefährlichen Rivalen im Kampf um die Macht, für einen beliebten General, der seine Janitscharen durchaus ins Innerste Allerheiligste des Palastes führen mochte, wie er dies bereits einmal getan hatte, damals, als er den Großwesir ermordete. Ein Mann, der den Großwesir auf dem Gewissen hatte, war auch zum Königsmord fahrig. Bei einem solchen Mann überwog die Gefahr möglicherweise den Nutzen. Kaum waren sie zurück in Samarkand, begann der Sultan, der seinen italienischen Oberbefehlshaber in der Öffentlichkeit mit Lob überschüttete, insgeheim Argalias Untergang zu planen.

Die Neuigkeit, dass seine Stellung am Hofe gefährdet war, kam Argalia zu Ohren, weil Qara Köz beschloss, ihm auch weiterhin mit Tulpen eine Freude zu bereiten. Überall in der Wohnstätte der Glückseligkeit gab es Gärten, ummauerte Gärten, versunkene Gärten, bewaldete Bereiche, in denen sich das Rotwild ungehindert bewegte, aber auch Uferrasenflächen, die sich hinab bis zum Goldenen Horn erstreckten. Die Tulpenbeete fanden sich im vierten Hof, nahe dem flachen Hügel am Nordende des Topkapi-Serails, dem höchsten Punkt des gesamten Anwesens, wo überall kleine hölzerne, Kiosk genannte Lustpavillons standen. Dort wuchsen die Tulpen in großer Zahl und schufen eine Atmosphäre duftender Heiterkeit und tiefen Friedens. Prinzessin Qara Köz und ihr züchtig verhüllter Spiegel gingen oft in diesen Gärten spazieren, ruhten sich in einem der Kioske aus, tranken süße Säfte und unterhielten sich in leisen, sanften Tönen mit den vielen Palast-bostancis, den Gärtnern, die Blumen für Herrn Argalia sammeln sollten; und so müßig, wie Frauen dies gern tun, schwatzten und tratschten sie mit ihnen über den arglosen Klatsch des Tages. Bald war das gesamte Gartenpersonal, vom einfachsten Unkrautzupfer bis zum bostanci-basha, dem Obergärtner, in die beiden Damen verschossen, und so lösten sich die Zungen, wie dies bei wahrhaft Liebenden oft geschieht. Viele wunderten sich, wie rasch die beiden ausländischen Damen doch die türkische Sprache erlernt hatten, beinahe über Nacht, zumindest kam es ihnen so vor. Wie durch Zauberei, sagten die Gärtner.
Qara Köz’ wahre Absichten waren jedoch alles andere als arg-los. Sie wusste, wie dies alle neuen Bewohner der Wohnstätte der Glückseligkeit nur allzu bald wussten, dass die tausendundeinen bostancis nicht bloß die Gärtner des Sultans, sondern auch dessen offizielle Scharfrichter waren. Wurde eine Frau eines Vergehens überführt, war es ein bostanci, der sie lebend in einen mit Steinen beschwerten Sack einnähte und in den Bosporus warf. Und sollte ein Mann getötet werden, packte ihn eine Gruppe Gärtner und unterzog ihn einer rituellen Strangulation. So also wurde Qara Köz die Freundin der bostancis und lernte kennen, was die Gärtner mit schwarzem Humor die Tulpennachrichten nannten. Schon bald verdrängte der Gestank des Verrates den zarten Duft der Blumen. Man warnte sie, dass ihr Herr, der große General, der Diener dreier Sultane, Gefahr laufe, sich falschen Beschuldigungen ausgesetzt zu sehen und zum Tode verurteilt zu werden. Der Obergärtner selbst teilte ihr dies mit. Der bostanci-basha der Wohnstätte der Glückseligkeit war auch des Sultans oberster Scharfrichter, der nicht allein seiner hortikulturellen Fähigkeiten wegen, sondern auch wegen seines Lauf tempos ausgewählt wurde, denn wenn man einen Günstling des Hofes zum Tode verurteilte, bekam er eine Chance, die keinem gewöhnlichen Sterblichen gewährt wurde. Lief er schneller als der bostanci-basha, durfte er weiterleben, die Strafe würde in Verbannung umgewandelt. Nur war der bostanci-basha berühmt dafür, dass er schnell lief wie der Wind, weshalb die Chance eigentlich keine war. Diesmal allerdings stimmte den Gärtner der Gedanke an das, was er zu tun haben würde, nicht froh. «Ich müsste mich schämen, einen so großen Mann umzubringen», sagte er. «Dann», erwiderte die Zauberin, «sollten wir möglichst einen Weg aus diesem Dilemma finden.»
«Gerüchte schwirren durch den Garten», erzählte sie Argalia bei der Ankunft daheim. «Er wird Euch bald umbringen.» Mit ernster Miene fragte Argalia: «Unter welchem Vorwand?» Die Prinzessin nahm sein blasses Gesicht in beide Hände. «Ich bin der Vorwand», sagte sie. «Ihr habt Euch eine Mogulprinzessin als Kriegsbeute erkoren. Das wusste er nicht, als er Euch ziehen ließ, aber jetzt weiß er es. Die Gefangennahme einer Mogulprinzessin ist eine kriegerische Handlung gegen den Herrscher, weshalb er behaupten wird, Ihr hättet, da Ihr das Osmanenreich in eine solche Lage brachtet, Hochverrat begangen und müsstet folglich den Preis dafür zahlen. Das jedenfalls verkünden die Nachrichten der Tulpen.» Derart gewarnt, hatte Argalia Zeit, sich vorzubereiten, und an dem Tag, an dem sie kamen, ihn zu holen, waren Qara Köz und Spiegel bereits im Schutze der Nacht mit vielen Truhen voller Schätze, die er in manch erfolgreichem Feldzug angesammelt hatte, sowie in Begleitung der vier Schweizer Riesen und darüber hinaus der gesamten Schar seiner treuesten Janitscharen, insgesamt einigen hundert Mann, nach Bursa vorausgeschickt worden, damit sie südlich der Hauptstadt auf ihn warteten. «Wenn ich mit euch fliehe», hatte er gesagt, «wird Selim uns jagen und wie tollwütige Hunde niedermetzeln. Also muss ich den Prozess über mich ergehen lassen und nach meiner Verurteilung das Rennen gegen den Gärtner gewinnen.» Qara Köz hatte gewusst, dass er dies sagen würde. «Wenn Ihr so fest zum Sterben entschlossen seid», sagte sie, «werde ich Euch wohl gewähren lassen müssen.» Womit sie meinte, sie wolle ihm das Leben retten, auch wenn es nicht einfach werden würde, da sie beim großen Rennen nicht dabei sein konnte.
Kaum hatte Selim der Grimmige im Thronsaal der Wohnstätte der Glückseligkeit über den Verräter das Todesurteil verhängt, machte Argalia, der die Regeln kannte, auf dem Absatz kehrt und lief um sein Leben. Vom Thronsaal bis zum Angelhaustor ist es durch den Palastgarten knapp einen Kilometer, und er musste dort vor dem nacktbrüstigen bostanci-basha mit seiner roten Schädelkappe und den weißen Musselinpluderhosen ankommen, der ihm bereits dicht auf den Fersen war und mit jedem Schritt aufholte. Sollte er gefangen genommen werden, würde er am Angelhaus sterben und in den Bosporus geworfen werden, in den man alle Leichen warf. Wie er an den Blumenbeeten vorbeirannte, sah er vor sich das Angelhaustor, hörte die Schritte des bostancibasha näher kommen und wusste, er würde es nicht schaffen. «Das Leben ist absurd», dachte er. «Da überlebt man so viele Kriege und wird am Ende von einem Gärtner erwürgt. Zu Recht heißt es, es gebe keinen Helden, der nicht vor seinem Tod die Sinnlosigkeit allen Heldentums erkenne.» Und ihm fiel ein, wie ihm als kleinem Jungen zum ersten Mal die Absurdität des Lebens aufgegangen war, damals, allein in einem Ruderboot inmitten einer Seeschlacht und bei dichtem Nebel. «All die Jahre später», dachte er, «muss ich dieselbe Lektion noch einmal lernen.»

Nie wurde eine befriedigende Erklärung dafür gegeben, war-um der schnellfüßige Obergärtner Sultan Selims des Grimmigen nur dreißig Meter vor dem Ende des Gärtnerrennens urplötzlich zu Boden stürzte oder warum er sich den Bauch hielt und einen Anfall übelster Darmwinde erlitt, die je ein Mensch gerochen hat, warum er Fürze laut wie Kanonenschläge von sich gab und vor Schmerz wie eine entwurzelte Alraune schrie, während Argalia am Zielpfosten des Angelhauses vorbeilief, ein dort wartendes Pferd bestieg und ins Exil davongaloppierte. «Habt Ihr da etwa Eure Hand im Spiel gehabt?», fragte Argalia seine Geliebte, als sie sich in Bursa wiedersahen.

«Aber was hätte ich meinem lieben kleinen basha denn antun sollen?», antwortete sie mit weit aufgerissenen Augen. «Ihm einen Brief zuschicken, in dem ich ihn im Voraus dafür danke, Euch, meinen entsetzlichen Entführer, ermordet zu haben, und ihm als Zeichen meiner Dankbarkeit einen Krug anatolischen Weins zukommen lassen, das ist eine Sache, ganz recht, aber genau zu berechnen, wie lange ein dem Wein beigemischtes Gift bräuchte, bis es die gewünschte Wirkung zeigte, nun, das ist natürlich völlig unmöglich.»

Er schaute ihr in die Augen, konnte darin aber nicht die geringste Andeutung auf Lug und Trug entdecken, keinen Hinweis darauf, dass sie oder ihr Spiegel oder beide gemeinsam irgendetwas getan haben mochten, das den Gärtner dazu verführt haben könnte, seine Pflicht zu versäumen, im Voraus zu einer bestimmten Stunde vom anatolischen Wein zu kosten, gar zum Ausgleich für einen Moment der Freuden, der für einen Mann wie ihn ein Leben lang vorhalten würde. Nein, sagte sich Argalia, während ihn die Blicke von Qara Köz in ihren Bann zogen, nichts dergleichen konnte geschehen sein. Seht die Augen meiner Geliebten, wie arglos sie schauen, wie voll der Liebe und der Wahrheit.
Admiral Andrea Doria, Kapitän der genuesischen Flotte, wohnte, so er denn er an Land weilte, in der Vorstadt Fassolo vor dem San-Tommaso-Tor gleich außerhalb der Stadtmauern am nordwestlichen Eingang zum Hafen. Von einem Edelmann aus Genua mit Namen Jacobo Lomellino hatte er sich dort eine Villa gekauft, da er sich darin wie einer der alten, Toga tragenden, mit Lorbeerkranz geschmückten Römer fühlte, die ehedem in prächtigen Strandvillen wie etwa jener in Laurentinum gewohnt hatten, beschrieben vom jüngeren Plinius, aber auch wegen des Ausblicks auf den Hafen, der es ihm ermöglichte, genau im Auge zu behalten, wer zu welcher Zeit in die Stadt kam oder wer sie verließ. Für den Fall, dass rasches Handeln vonnöten sein sollte, ankerten seine Galeeren unmittelbar vor dem Haus. Und so kam es, dass er zu den Ersten zählte, die jenes Schiff aus Rhodos erspähten, das Argalia zurück nach Italien brachte, und mit Hilfe seines Fernglases machte er an Bord eine große Anzahl schwerbewaffneter Männer in der Uniform osmanischer Janitscharen aus. Vier von ihnen waren offenbar Albino-Riesen. Von seinem Platz auf der Terrasse schickte er einen Boten zu seinem Leutnant Ceva und wies ihn an, dem Schiff aus Rhodos entgegenzusegeln und herauszufinden, was die Besucher im Schilde führten. So also geschah es, dass Ceva der Skorpion aufs Neue dem Menschen gegenübertrat, den er einst in feindlichem Gewässer zurückgelassen hatte.
Der Mann, in dem der Skorpion Argalia noch nicht wieder erkannt hatte, trug, wie er da vor dem Mast des rhodischen Schiffes saß, einen gewaltigen Turban sowie die weiten, fließenden Brokatgewänder eines wohlhabenden osmanischen Prinzen. Hinter ihm standen seine Janitscharen, kampfbereit und bis an die Zähne bewaffnet, und an seiner Seite harrten die zwei schönsten Frauen, die Ceva je gesehen hatte, ihr Liebreiz unverschleiert und für jedermann sichtbar, das schwarze Haar offen im Wind wie die Locken einer Göttin; jegliches Sonnenlicht schien allein auf sie gerichtet, sodass die übrige Welt dagegen kalt und dunkel wirkte. Sobald Ceva an Bord des rhodischen Transportschiffes kam, eine Abteilung der Goldbande im Rücken, wandten sich die Frauen zu ihm um, und er fühlte, wie ihm das Schwert aus der Hand glitt. Ein sanfter, doch unerbittlicher Druck auf beide Schultern, ein Druck, dem zu widerstehen er zu seinem eigenen Erstaunen nicht die geringste Lust verspürte, zwang ihn zu Boden, und plötzlich kniete er mit all seinen Männern zu Füßen der Besucher, und über seine Lippen sprudelten ungewohnte Worte der Begrüßung: Seid willkommen, edle Damen, und all jene, die über Euch wachen.
«Vorsicht, Skorpion», sagte der osmanische Prinz in perfektem florentinischem Italienisch und wiederholte dann Cevas eigene Worte, «denn wenn ein Kerl mir nicht in die Augen sieht, reiß ich ihm die Leber raus und verfüttere sie an die Möwen.»
Da wusste Ceva, wen er vor sich hatte. Er wollte aufspringen und nach seiner Waffe greifen, merkte aber, dass er wie auch all seine Männer aus irgendeinem Grund am Boden zu haften schien. «Andererseits», fügte Argalia nachdenklich hinzu, «könnt Ihr mir gar nicht in die Augen, sondern höchstens auf meinen verdammten Schwanz sehen.»
Der große condottiere Doria, dem der Bart in mächtigen Wellen vom Kinn herabfloss, posierte gerade für den Bildhauer Bronzino als Meeresgott Neptun und stand nackt auf der Terrasse seiner Villa, einen Dreizack in der Rechten, während der Künstler eine Skizze seiner Blöße anfertigte, als zu seiner nicht unbeachtlichen Bestürzung ein schwerbewaffneter Schurkentrupp den privaten Anlegesteg zu seinem Haus heraufkam. Wundersamerweise marschierte Ceva allen voran, sein eigener Mann, und führte sich wie ein kriecherischer Speichellecker auf, während sich inmitten der Gruppe offenbar zwei weibliche, Kapuzen tragende Personen befanden, deren Identität und Eigenart er nicht zu bestimmen wusste. «Wenn ihr glaubt, eine Bande Briganten mitsamt ihren Huren genüge, Andrea Doria kampflos gefangen zu nehmen», brüllte er, packte mit der einen Hand sein Schwert, mit der anderen den Dreizack, «dann wollen wir doch einmal sehen, wer hier mit dem Leben davonkommt.» Im selben Augenblick schlugen die Zauberin und ihre Sklavin die Kapuzen zurück, und Admiral Doria brachte mit einem Mal nur noch ein rotgesichtiges Gestammel zustande. Seine Hose suchend, wich er vor der herannahenden Gruppe zurück, doch schienen die Frauen seiner Blöße nicht die geringste Beachtung zu schenken, was die Schande irgendwie noch mehrte. «Ein Junge, den Ihr für tot zurückgelassen habt, kehrt zurück, um einzufordern, was ihm zusteht», sagte Qara Köz. Sie sprach akzentfrei Italienisch, das hörte Doria, doch war sie offenkundig keine Italienerin. Sie war eine Besucherin, für die ein Mann sein Leben opfern konnte, eine Königin, die man anbeten musste, und ihre Gefährtin, die der königlichen Dame wie ein Spiegelbild glich, dem Original in Schönheit und Charme nur unwesentlich unterlegen, war ebenfalls von anbetungswürdiger Wohlgestalt. Im Beisein solcher Wunder konnte man unmöglich ans Kämpfen denken. Admiral Doria warf sich einen Mantel über und stand mit offenem Munde da, während sich die Fremden näherten, ein Meeresgott im Banne der dem Wasser entstiegenen Nymphen.
«Wie versprochen», sagte Qara Köz, «ist er als wohlhabender Prinz zurückgekehrt. Den Wunsch nach Rache hat er überwunden, für Eure Sicherheit ist also garantiert, doch fordert er jene Belohnung ein, die ihm angesichts der in der Vergangenheit geleisteten Dienste und seines gegenwärtigen Gnadenerweises wohl auch fraglos zusteht.»
«Und was genau wäre das?», wollte Andrea Doria wissen. «Eure Freundschaft», erwiderte die Zauberin, «sowie ein gutes Mahl und sicheres Geleit durch diese Gewässer.»
«Sicheres Geleit wohin?», fragte der Admiral. «Wohin will er mit solch einer blutrünstigen Schar?»

«Nach Hause heißt es für den Seemann, Andrea», sagte Argalia, der Türke. «Nach Hause für den Krieger. Ich habe die Welt gesehen, habe mein Scherflein Blut vergossen und auch mein Glück gemacht; jetzt will ich es genießen.»

«Ihr seid ein Kind geblieben», erwiderte Andrea Doria. «Ihr glaubt immer noch, Euer Zuhause am Ende einer langen Reise sei ein Ort, an dem ein Mensch seinen Frieden finden kann.»

16. Als wären alle Florentiner Kardinäle …

Als wären alle Florentiner Kardinäle, kamen die verachteten Armen der Stadt den rotgewandeten Eminenzen zuvor, die in der Sixtinischen Kapelle in Klausur saßen, und zündeten vor lauter Begeisterung über die Wahl eines Medici zum Papst Freudenfeuer an. Die Stadt war so voller Flammen und Rauch, dass man aus der Ferne meinen konnte, sie würde niedergebrannt. Ein Reisender, der diesen Weg bei Sonnenuntergang entlangkam - ebenjener Reisende, der jetzt diesen Weg entlangkommt, den Weg vom Meer hierher, dessen zusammengekniffene Augen, weiße Haut und das schwarze lange Haar ihn nicht wie einen zurückkehrenden Landsmann, sondern wie ein exotisches Geschöpf aus einer fernöstlichen Legende aussehen ließen, wie einen Samurai von der Insel Cipangu oder Zipangu vielleicht, will sagen von Japan, einen Nachfahren der furchterregenden Kiushu-Krieger, die einst die einfallenden Horden des chinesischen Herrschers Kubilai Khan besiegten -, ein solcher Reisender könnte meinen, sich dem Schauplatz einer Katastrophe zu nähern, und innehalten, das Pferd zügeln und gleich einem General gebieterisch die Hand heben - wie jemand eben, der es gewohnt ist, dass ihm gehorcht wird -, um sich einen Überblick zu verschaffen. Argalia sollte sich in den folgenden Monaten noch oft an diesen Augenblick erinnern. Die Freudenfeuer waren entzündet worden, noch ehe die Entscheidung der Kardinäle gefallen war, doch erwies sich ihre Prophezeiung als zutreffend, und ein Medici, Kardinal Giovanni de’ Medici, wurde in jener Nacht tatsächlich zum Papst gewählt, Papst Leo X., um seine Macht mit der seines Bruders Herzog Giuliano in Florenz zu vereinen. «Hätte ich gewusst, dass diese Bastarde wieder im Sattel sitzen, wäre ich in Genua geblieben, um mit Doria auf seinen Kampfschiffen zu segeln, bis die Welt wieder zur Vernunft kommt», sagte er Il Machia bei ihrem Wiedersehen, «in Wahrheit aber wollte ich mit ihr angeben.»

«Die Liebe macht einen Mann zum Narren»} gestand der Herrscher Mogor delfAmore. «Der Welt das unverhüllte Gesicht der Geliebten zu zeigen ist der erste Schritt auf dem Weg, sie zu verlieren.»
«Kein Mensch befiehlt Qara Kö~ ihr Gesicht zu enthüllen»} sagte der Reisende. «Auch hat sie es ihrer Sklavin nicht befohlen. Sie traf ihre Entscheidung aus freien Stücken} ebenso wie ihr Spiegel.»
Der Herrscher verstummte. Über Zeit und Raum hinweg begann er, sich zu verlieben.
Im Alter von vierundvierzig Jahren spielte Niccolo «Il Machia» an einem späten Nachmittag in der Taverne von Percussina Karten mit Frosino Uno, dem Müller, mit dem Metzger Gabburra und dem Schankwirt Vettori, die sich Beleidigungen an den Kopf warfen, aber sorgsam darauf achteten, den Dorfherrn dabei auszusparen, auch wenn er trunken im Lärm an ihrem Tisch hockte und sich wie jemand ihresgleichen benahm, zweimal mit der Faust auf den Tisch schlug, sooft er ein Blatt verlor, dreimal, wenn er gewann, der fluchte wie sie alle, es im Trinken mit jedem aufnahm und sie seine geliebten Scheißkerle nannte, als Gaglioffo, der unflätige, nichtsnutzige Holzfäller, in ungewohnter Hast angelaufen kam, die Augen weit aufgerissen, und außer Atem hinter sich zeigte. «Hundert Männer oder mehr», japste er, wies auf die Tür und rang nach Luft. «Fickt mich zweimal in den Arsch, wenn ich lüge. Schwer bewaffnet, dazu berittene Riesen, und sie kommen hierher!»
Niccolo erhob sich, die Karten noch in der Hand. «Dann, meine Freunde, bin ich ein toter Mann», sagte er. «Der große Herzog Giuliano hat also doch beschlossen, mich erledigen zu lassen. Ich danke euch für die vergnüglichen Abende, die mir halfen, am Ende harter Arbeitstage den Schimmel von meinen Hirnwänden zu kratzen, aber jetzt muss ich gehen und mich von meiner Frau verabschieden. »

Gaglioffo krümmte sich keuchend und presste sich vor Seitenstechen die Hände in den Leib. «Nein, mein Herr», keuchte er, «vielleicht nicht. Sie tragen eine andere Livree. Verdammte Ausländer, Herr, kommen bestimmt aus Ligurien oder von noch weiter her. Und Frauen sind auch dabei. Frauen, ausländische Frauen, Herr, wenn man die beiden Hexen ansieht, packt einen das Fickverlangen wie die Schweinepest. Fickt mich, Herr, wenn ich lüge.»

Diese Leute waren gute Leute, dachte Il Machia, diese wenigen Leute, seine Leute, aber im Allgemeinen waren die Florentiner Verräter. Sie waren es, die die Republik verraten und die Medici zurückgeholt hatten. Leute hatten ihn verraten, denen er als wahrhafter Republikaner zu Diensten gewesen war, als Sekretär der Zweiten Kanzlei, reisender Diplomat und Gründer der florentinischen Miliz. Nach dem Sturz der Republik und der Entlassung des Gonfaloniere Piero Soderini, des Vorsitzenden des Regierungsrates der Republik, war auch Il Machia entlassen worden. Nach vierzehn Jahren treuer Dienste bewies das Volk, dass es nichts auf Treue gab. Die Leute waren närrisch nach Macht. Sie hatten zugelassen, dass man Il Machia in die Eingeweide der Stadt zu den wartenden Folterknechten schleppte. Solchen Leuten kam es nicht zu, dass man sich um sie sorgte. Sie verdienten keine Republik. Solche Leute verdienten einen Despoten. Vielleicht waren alle Menschen so, überall, nur seine Bauern nicht, mit denen er trank, Karten und Tricktrack spielte, ein paar alte Freunde vielleicht auch nicht, Agostino Vespucci zum Beispiel; zum Glück hatten sie Ago nicht gefoltert, er war nicht stark und hätte alles und jedes gestanden, und dann hätte man ihn umgebracht, natürlich nur, falls er nicht schon unter der Folter gestorben wäre. Doch von Ago, der jünger als Il Machia war, hatten sie nichts gewollt. Il Machia war es, den sie töten wollten.

Sie hatten ihn nicht verdient. Seine Bauern verdienten ihn, doch im Allgemeinen verdiente das Volk seine grausamen, seine geliebten Fürsten. Der Schmerz, der ihm durch den Leib fuhr, war kein bloßer Schmerz, sondern eine Erkenntnis. Es war ein erzieherischer Schmerz, der die letzten Bruchstücke seines Vertrauens ins Volk tilgte. Er hatte dem Volk gedient, und er hatte mit Schmerzen gezahlt, dort, an jenem lichtlosen, unterirdischen Ort, einem Ort ohne Namen, an dem namenlose Menschen Leibern, die ebenfalls keinen Namen besaßen, namenlose Dinge antaten, da Namen dort nicht zählten, nur der Schmerz zählte, Schmerz, dem das Geständnis folgte, dann der Tod. Die Leute wollten seinen Tod, zumindest kümmerte es sie nicht, ob er lebte oder starb. In der Stadt, die der Welt die Idee vom hohen Wert und von der Freiheit der individuellen Menschenseele schenkte, gab man nichts auf ihn und scherte sich die Bohne um die Freiheit seiner Seele, ebenso wenig wie um seine Unverletzlichkeit. Vierzehn Jahre seiner ehrlichen und achtbaren Dienste hatte er ihnen gewidmet, doch sie hatte sein Leben keinen Deut gekümmert, sein Recht, am Leben bleiben zu dürfen. Solche Leute musste man einfach übersehen. Zu Liebe oder Gerechtigkeit waren sie nicht fähig, und deshalb waren sie auch nicht weiter von Bedeutung. Auf solche Leute kam es nicht an. Sie waren weder primär noch sekundär, nur Despoten zählten. Die Liebe des Volkes war launisch und unbeständig, nach solcher Liebe zu streben war dumm. Es gab keine Liebe. Es gab nur die Macht.
Nach und nach war ihm alle Würde genommen worden. Man verbot ihm, den Stadtbezirk von Florenz zu verlassen, dabei war er ein Mensch, der gern reiste. Man verbot ihm, den Palazzo Vecchio zu betreten, in dem er doch so viele Jahre gearbeitet hatte, in den er gehörte. Von seinem Nachfolger, einem gewissen Michelozzi, Speichellecker der Medici und widerlicher Kriecher, wurde er wegen möglicher Veruntreuung verhört, doch war er ein ehrlicher Diener der Republik gewesen, weshalb man kein Anzeichen irgendeiner Missetat entdecken konnte. Dann fand man seinen Namen auf einem Stück Papier in der Tasche eines Mannes, den er nicht kannte; also wurde er eingesperrt und an den namenlosen Ort gebracht. Der Mann hieß Boscoli, ein Idiot, einer von vier Idioten, dessen Komplott gegen die Medici so überaus idiotisch war, dass es aufflog, ehe sie damit auch nur begonnen hatten. In Boscolis Tasche steckte eine Liste mit zweihundert Namen:
Feinde der Medici in den Augen eines Idioten. Einer der Namen lautete: Machiavelli.
Wer einmal in einer Folterkammer war, dessen Sinne können gewisse Dinge nie mehr vergessen: die klamme Dunkelheit, den abgestandenen Gestank menschlicher Exkremente, die Ratten, die Schreie. Wer einmal gefoltert wurde, in dem hört ein Teil nie auf, Schmerz zu fühlen. Die unter dem Namen strappado bekannte Strafe gehört zu den quälendsten Foltern, die man einen Menschen erleiden lassen kann, ohne ihn gleich zu töten. Die Handgelenke waren hinter seinem Rücken gefesselt, und das Seil führte über einen an der Decke hängenden Flaschenzug. Wenn er daran hochgezogen wurde, war der Schmerz in seinen Schultern die ganze Welt. Nicht bloß die Stadt Florenz und ihr Fluss, nicht bloß Italien, nein, Gottes gesamte Schöpfung wurde durch diesen Schmerz ausgelöscht. Schmerz war die neue Welt. Kurz ehe er aufhörte, an irgendwas zu denken, und um nicht daran denken zu müssen, was danach geschehen würde, dachte Il Machia an die Neue Welt und an Agos Vetter Amerigo, an Gonfaloniere Soderinis Freund, an Amerigo, den Wilden, den Wanderer, der mit Kolumbus bewiesen hatte, dass im Ozean keine Ungeheuer lebten, welche ein Schiff mit einem einzigen Bissen zerteilen konnten, dass die Schiffe nicht in Flammen aufgingen, wenn sie den Äquator erreichten, dass sie nicht im Morast stecken blieben, wenn sie zu weit nach Westen segelten, und der, wichtiger noch als alles andere, so klug war zu begreifen, was dieser Trottel von Kolumbus nicht kapierte, nämlich dass die Landmasse auf der anderen Seite des Ozeans keine indischen Inseln waren, dass sie mit Indien nichts zu tun hatte, sondern eine gänzlich neue Welt darstellten. Würde diese Neue Welt nun auf Befehl der Medici geleugnet werden, würde sie per Erlass ausgelöscht und nur zu einem dieser unglückseligen Hirngespinste werden - so wie Liebe, Rechtschaffenheit oder Freiheit -, um mit der Republik unterzugehen, von Soderini und all den übrigen Verlierern in die Tiefe gezerrt, ihn selbst eingeschlossen? Der glückliche alte Seebär, dachte Il Machia, steckt wohlbehalten in Sevilla, wo ihm sogar der Arm der Medici nichts anhaben kann. Amerigo mochte alt und krank sein, aber er war in Sicherheit und durfte nach seinen vielen Reisen immerhin in Frieden sterben, dachte Il Machia; und dann wurde das Seil zum ersten Mal angezogen, und Amerigo verschwand, dann die Alte Welt und schließlich auch die Neue.
Sechs Mal zog man mich hoch, aber ich habe nichts gestanden, weil ich nichts zu gestehen hatte. Nach der Folter wurde er wieder in die Zelle gesperrt, und man tat, als wolle man ihn dort vergessen und langsam im rattigen Dunkel krepieren lassen. Dann aber, ganz unverhofft, die Freilassung, in die Schmach entlassen, ins Vergessen, ins Eheleben. Frei, um nach Percussina zurückzukehren. Mit Ago Vespucci spazierte er durch die Wälder und suchte nach Alraunen, aber sie waren keine Kinder mehr. Ihre Hoffnungen lagen aufgegeben hinter ihnen, schimmerten nicht länger leuchtend in der Zukunft. Die Zeit für Alraunen war vorbei. Einmal hatte Ago versucht, La Fiorentinas Liebe zu erringen, indem er Alraunenpulver in ihr Glas schüttete, doch die gewiefte Alessandra war nicht so leicht zu erobern, sie zeigte sich immun gegen Alraunenzauber und ersann für Ago eine schreckliche Strafe. In der Nacht, nach der sie das Alraunenelixier getrunken hatte, wich sie von ihren sonst so peinlich genau eingehaltenen Lebensgewohnheiten ab und ließ Ago, diesen unbedeutenden Tropf, hochmütig in ihr Bett, doch kaum hatte er fünfundvierzig Minuten lang das ungetrübte Glück des Paradieses genossen, stieß sie ihn ohne weitere Umstände wieder hinaus, allerdings nicht ohne ihn zuvor an den geheimen Fluch der Alraune zu erinnern, dass nämlich jeder Mann, der eine im Banne der Alraune stehende Frau geliebt hatte, innerhalb von acht Tagen sterben müsse, falls sie nicht sein Leben rettete, indem sie ihm gestattete, eine ganze Nacht mit ihr zu verbringen, «und darauf, mein Lieber», sagte sie, «kannst du lange warten». Ago, der abergläubische Schisshase, der wie alle Welt felsenfest an die Magie glaubte, verbrachte acht Tage in der Gewissheit, dass sein Ende nahe war, fühlte den Tod die Glieder hinaufkriechen, spürte, wie kalte Finger ihn liebkosten und seine Hände langsam, ganz langsam Hoden und Herz mit eisernem Griff umklammerten. Als er am neunten Morgen lebend erwachte, war er keineswegs erleichtert. «Ein lebender Tod», erklärte er Il Machia, «ist schlimmer als ein toter Tod, denn im lebenden Tod kann man immer noch den Schmerz eines gebrochenen Herzens fühlen.»

Niccolo wusste Bescheid über den lebenden Tod, denn obwohl er selber nur knapp dem Tod der Toten entronnen war, war er jetzt doch ein toter Hund, ein ebenso toter Hund wie der arme Ago, da sie beide aus dem Leben entlassen worden waren, aus ihren Stellungen, aus den grands salons wie jenem von Alessandra Fiorentina, obwohl sie doch allen Grund gehabt hatten, dies für ihr wahres Leben zu halten. Ja, sie waren Hunde mit gebrochenem Herzen, weniger noch, sie waren verheiratete Hunde. Abend für Abend starrte er seine Frau über den Esstisch an und merkte, dass er ihr nichts zu sagen hatte. Marietta, das war ihr Name, und hier saßen auch seine Kinder, ihre Kinder, ihre vielen, vielen Kinder, also hatte er sie gewisslich geheiratet und wie ein richtiger Mann Kinder mit ihr gezeugt, doch das war zu einer anderen Zeit gewesen, der Zeit pflichtvergessener Grandeur, als er noch jeden Tag ein anderes Mädchen vögelte, um vital und agil zu bleiben, und seiner Frau hatte er es auch besorgt, mindestens sechs Mal. Marietta Corsini, sein Weib, die ihm die Unterhosen und Handtücher stopfte und nichts über nichts wusste, die seine Philosophie nicht verstand und auch nicht über seine Scherze lachen konnte. Jedermann hielt ihn für witzig, doch sie nahm ihn stets wörtlich, sie glaubte, ein Mann meine, was er sagte, und Anspielungen und Metaphern setzten Männer nur ein, um Frauen zu täuschen, um sie denken zu lassen, sie wüssten nicht, was gespielt würde. Er liebte sie, gewiss. Er liebte sie wie ein Mitglied seiner Familie. Wie eine Verwandte. Wenn er mit ihr schlief, fühlte es sich sogar irgendwie falsch an. Es kam ihm inzestuös vor, als vögelte er seine Schwester. Genau genommen war es allein diese Vorstellung, die ihn erregen konnte, wenn er bei ihr lag. Ich ficke meine Schwester, sagte er sich und kam.
Sie kannte seine Gedanken, wie jede Frau die Gedanken ihres Mannes kennt, und sie litt darunter. Niccolo war zuvorkom-mend und hatte auf seine Weise viel für sie übrig. Madonna Marietta und ihre sechs Kinder, Münder, die es zu stopfen galt. Die absurd fruchtbare Marietta, einmal angefasst, schon blähte ein Kind sie auf und purzelte bald darauf aus ihr heraus, ein Bernardo, ein Guido, eine Bartolomea, ein Totto, eine Primavera und noch ein]unge, wie hieß er gleich, Lodovico, die Vaterschaft wollte offenbar nie enden, dabei war dieser Tage das Geld so knapp. Signora Machiavelli. Da kam sie auch schon in die Taverne gestürzt und sah aus, als stünde ihr Haus in Flammen. Sie trug eine Rüschenhaube, das Haar hing ihr wirr in ungebändigten Löckchen ums eiförmige Gesicht mit dem kleinen Mund, den vollen Lippen, und sie flatterte mit den Händen wie eine flügelschlagende Ente, ja, doch da er schon einmal beim Thema Enten war, musste auch zugegeben werden, dass sie ein wenig watschelte. Seine Frau watschelte. Er war mit einer watschelnden Frau verheiratet. Unvorstellbar, dass er je wieder ihr Geschlecht berühren würde. Es konnte einfach keinen Grund geben, sie jemals wieder anzufassen.

«Niccolo mio», rief sie mit einer Stimme, die, nun ja, wirklich ein wenig quakte, «hast du gesehen, was da auf der Straße zu uns kommt?»
«Was denn, geliebtes Weib?», fragte er beflissen.

«Was Schlimmes für die ganze Gegend», sagte sie. «Sieht aus wie der leibhaftige Tod zu Pferde mitsamt riesigen Unholden und in Begleitung grausiger Teufelsköniginnen.»

Die Ankunft jener Frau in Sant’ Andrea in Percussina, die dereinst als l’ammaliatrice Angelica berühmt, wenn nicht gar berüchtigt werden sollte, der sogenannten Zauberin von Florenz, ließ die Männer von den Feldern herbeieilen, während die Frauen aus den Küchen liefen und sich die teigverklebten Finger an ihren Schürzen abwischten. Holzfäller kamen aus den Wäldern, der Sohn des Metzgers Gabburra rannte mit blutigen Händen aus dem Schlachthaus, und die Töpfer ließen ihre Brennöfen im Stich. Frosino Uno, der Zwillingsbruder des Müllers Frosino Due, trat mehlbestäubt aus der Mühle. Die lederhäutigen, wundnarbigen Janitscharen von Stambul boten allerdings einen überwältigenden Anblick, und auch ein Quartett Schweizer Albino-Riesen auf weißen Pferden sah man in diesem Krähenwinkel nicht gerade alle Tage, während die imposante Gestalt an der Spitze der Kavalkade mit der so überaus weißen Haut und dem so überaus schwarzen Haar, der bleiche Anführer, in dem Signora Machiavelli den Sensenmann höchstpersönlich zu erkennen gemeint hatte, zweifellos ziemlich erschreckend wirkte, weshalb die Kinder auch vor ihm zurückwichen, denn ob nun Todesengel oder nicht, hatte er doch eindeutig mehr Menschen sterben sehen, als gut für ihn oder sonst irgendjemanden sein konnte. Doch auch wenn er wirklich der Todesengel war, wirkte er zugleich seltsam vertraut, und er sprach den Dialekt der Gegend, weshalb sich manch einer fragte, ob der Tod gleichsam immer regionale Gestalt annahm, die eigene Mundart sprach, die innersten Geheimnisse kannte und noch über die ureigensten Witze lachte, während man von ihm bereits in die Schattenwelt gekarrt wurde.
Allerdings waren es die beiden Frauen, Marietta Corsini Machiavellis «Teufelsköniginnen», die jedermanns Aufmerksamkeit am stärksten erregten. Sie ritten, wie Männer reiten, saßen rittlings auf ihren Rössern, was ihr weibliches Publikum aus einem und die zuschauenden Männer aus ganz anderem Grund aufkeuchen ließ, und in ihren Gesichtern leuchtete das Licht der Offenbarung, als ob sie in jenen frühen Tagen ihres Unverschleiertseins fähig gewesen wären, das Licht aus allen Augen, die sie anschauten, aufzusaugen, um es dann als ihr eigenes Leuchten mit mesmerischer, Phantasien weckender Wirkung zurückzuwerfen. Die Gebrüder Frosino, selbst Zwillinge, musterten sie mit entrückten Mienen und dachten an eine Doppelhochzeit in nicht allzu ferner Zukunft. Trotz dieser Wahnvorstellungen aber erkannten sie scharfen Blickes, dass diese erstaunlichen Damen nicht ganz identisch, ja vermutlich nicht einmal miteinander verwandt waren. «Erstere ist die Herrin, Letztere die Dienerin», sagte der mehlbestäubte Frosino Due und setzte dann, da er der poetischere der beiden Brüder war, noch hinzu: «Sie sind wie Sonne und Mond, wie Klang und Echo, wie der Himmel und sein Spiegelbild im See.» Sein Bruder gehörte eher zur direkten Sorte. «Also nehme ich mir die Erste, und du kannst die Zweite haben», sagte Frosino Uno. «Denn die Zweite ist zwar auch schön, keine Frage, mit der machst du einen guten Fang, aber neben meiner wirkt sie fast unsichtbar. Man muss schon ein Auge schließen, um mein Mädchen auszublenden, wenn man sehen will, dass deines auch ganz passabel ist.» Da er der um elf Minuten ältere Bruder war, gestand er sich das Recht der freien Auswahl zu. Frosino Due wollte bereits aufbegehren, als die erste Dame, die Herrin, sich direkt zu den Brüdern umwandte und ihrer Gefährtin in vollendetem Italienisch zumurmelte: «Was meinst du, meine Angelica?»

«Sie haben durchaus einen gewissen simplen Charme, meine Angelica.»
«Natürlich ist es verboten, meine Angelica.»
«Natürlich, meine Angelica, aber vielleicht kommen wir ja in ihren
Träumen zu ihnen.»
«Wir beide, kommen wir beide zu ihnen, meine Angelica?» «Dann, meine Angelica, werden die Träume schöner.»

Also waren sie Engel. Keine Teufelinnen, sondern Gedanken lesende Engel, die ihre Flügel zweifellos ordentlich gefaltet unter ihren Kleidern verbargen. Die Gebrüder Frosino zuckten zusammen, wurden rot und warfen wilde Blicke um sich, doch hatte außer ihnen offenbar niemand vernommen, was ihnen die Engel auf Pferdesrücken anvertraut hatten. Das war natürlich unmöglich und ein weiterer Beweis dafür, dass etwas gleichsam Göttliches geschehen sein musste. Etwas Göttliches oder Übersinnliches. Dies hier waren jedenfalls Engel, wahre Engel. Angelica, der Name, den sie miteinander teilten, war kein Name für Dämonen. Sie waren Traumengel, die den Müllern Freuden versprochen hatten, von denen Männer wie sie wahrlich nur träumen konnten. Die Freuden des Paradieses. Ein Kichern quoll urplötzlich aus ihrem Mund, als die Brüder sich umdrehten und, so rasch ihre Beine sie tragen konnten, zurück in die Mühle rannten. «Wo wollt ihr hin?», rief ihnen Gabburra nach, der Metzger, doch wie hätten sie ihm erklären können, dass sie sich ganz dringend hinlegen und die Augen schließen mussten? Wie erklären, weshalb es so wichtig war, weshalb es nie zuvor so wichtig gewesen war zu schlafen? Vor Vettoris Taverne verharrte die Prozession. Stille breitete sich aus, die nur vom leisen Wiehern müder Pferde unter-brochen wurde. Wie jedermann, so starrte auch Il Machia die Frauen an, weshalb es ihm, als er Argalias Stimme aus dem Mund des bleichen Kriegers dringen hörte, vorkam, als zerrte man ihn vom Altar der Schönheit in eine stinkende Jauchegrube. «Was ist, Niccola», sagte die Stimme, «weißt du nicht mehr, dass es heißt, man würde sich selbst vergessen, wenn man seine Freunde vergisst?» Marietta klammerte sich angsterfüllt an ihren Gatten. «Wenn der Tod sich heute dein Freund nennt», zischte sie ihm ins Ohr, «sind deine Kinder noch vor Nachteinbruch Waisenkinder.» Il Machia schüttelte sich, als müsste er sich von der Nachwirkung berauschender Getränke befreien. Dann blickte er dem Reiter fest, doch ohne einen Funken Wärme in die Augen. «Am Anfang waren drei Freunde: Niccola ‚Il Machia‘, Agostino Vespucci und Antonio Argalia. Die Welt ihrer Kindheit war ein Zauberwald. Dann wurden Ninos Eltern von der Pest dahingerafft. Er ging, um sein Glück zu suchen, und sie haben ihn nie wieder gesehen.» Marietta blickte zwischen ihrem Mann und dem Fremden hin und her, und allmählich ging ihr ein Licht auf.

«Dann», schloss Niccolo, «nach langen Jahren verräterischer Taten gegen sein Land und gegen seinen Gott, die seine Seele zur Hölle verdammten und seinem Leib das Streckbett verdienten, kehrte Argalia, der Pascha - Arcalia, Arqalia, Al-Ghaliya, selbst der Name war zur Lüge geworden -, an jenen Ort zurück, der nicht länger seine Heimat war.»